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Das Reliquiar

Das Reliquiar

Titel: Das Reliquiar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emma Seymour
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schon achthundert Jahre an. Im Lauf der Zeit ist die Geschichte des Kreuzes bekannter geworden, und viele Personen folgten seinen Spuren, um es in ihren Besitz zu bringen.«
    »Die Geschichte des Kreuzes? Ich verstehe nicht ganz …«

    »Es hieß, die Reliquie habe Konstantinopel und das Reich geschützt. Und der Untergang des Reiches begann tatsächlich mit ihrem Verschwinden. Wer auch immer das Kreuz besitzt, verfügt angeblich über außergewöhnliche Macht.«
    »Das sind Legenden. Es ist nicht ungewöhnlich, dass im Zusammenhang mit einer Reliquie Gerüchte entstehen und...«
    »Legenden?«, unterbrach der Graf seine Enkelin und Ärger blitzte in seinen Augen auf. »Du hältst sie vielleicht dafür. Glaubst du etwa, dass alles, was uns umgibt, rational erklärt werden kann?«
    Noch vor einem Monat hätte Elena nicht gezögert, diese Frage mit einem klaren Ja zu beantworten. Aber die Erfahrung in Edinburgh und das, was sie am Morgen erlebt hatte, veranlassten sie, den Kopf zu senken und zu schweigen.
    »Nachdem die Venezianer das Kreuz geraubt hatten, verschwand es«, fuhr Lodovico fort. »Im Lauf der Jahrhunderte hat nicht nur unsere Familie danach gesucht, sondern auch Regierungen, Geschäftsleute, Kunsthändler und die Kirchen, die katholische und die orthodoxe, die sich beide für seine rechtmäßigen Verwahrer hielten. Trotzdem ist es bis heute nicht gefunden worden. Ab und zu taucht es irgendwo auf und verschwindet dann wieder. Offenbar gibt es zwei Kopien, jeweils geschaffen von den größten Goldschmieden des Mittelalters, Nikolaus von Verdun, und der Renaissance, Ercole dei Fedeli, der Goldschmied von Cesare Borgia. Aber diese beiden Kreuze sind ebenfalls verschwunden, das erste bereits im Mittelalter und das andere bei einem der vielen Kriege,
die in Europa gewütet haben. Es lässt sich nicht ausschließen, dass noch weitere Kopien existieren. Während des Zweiten Weltkriegs habe ich nach dem Kreuz gesucht. Die Nazis wollten es unbedingt in ihren Besitz bringen...« Er unterbrach sich und schloss erschöpft die Augen.
    »Aber nicht einmal du hast es gefunden«, sagte Elena.
    »Nein«, erwiderte Lodovico. »Ich habe versagt wie all die anderen vor mir.« Er stützte den Kopf an die Rückenlehne, und Elena beugte sich besorgt vor.
    »Fühlst du dich nicht gut, Opa?«
    »Ich bin sehr müde.Vielleicht sollte ich ein wenig ausruhen, bevor wir das Gespräch fortsetzen.«
    »Soll ich Goffredo rufen, damit er dich in dein Zimmer zurückbringt?«
    »Ja, danke, meine Liebe. Nimm den Beutel mit dem Medaillon, und bewahre es gut auf. Und noch etwas, Elena …«
    »Ja?«
    »Kannst du diesem launischen Alten jemals verzeihen?«
    »Ich habe es bis jetzt nicht gewusst, aber ich habe dir schon vor langer Zeit verziehen, Opa. Und mein Vater hat dir ebenfalls verziehen. Aber er war zu stolz, den ersten Schritt zu tun. Er war genauso stolz wie du.«
     
    Den Samtbeutel an sich gedrückt, kehrte Elena in ihr Zimmer zurück. Sie wollte nicht, dass jemand sie weinen sah, doch kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, brach sie in Tränen aus und sank aufs Bett. Das Leid und die Einsamkeit all der Jahre schienen plötzlich in ihrer Brust explodiert zu sein. Endlich hatte sie eine Familie
gefunden... Und sie wurde ihr erneut genommen.Warum war ihr Großvater so eigensinnig und stur gewesen? Warum hatte er sie nicht früher angerufen?
    Als die Tränen schließlich versiegten, ging sie zum Fenster, öffnete es, atmete die kühle Luft tief ein und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Dabei stellte sie sich der Erkenntnis, dass nicht das Wiedersehen mit ihrem Großvater sie so durcheinandergebracht hatte, sondern auch seine Schilderungen. Das Kreuz, der Schwur, die Mission... Ihr Blick fiel auf den Samtbeutel auf dem Bett. Nach kurzem Zögern nahm sie ihn, holte das Medaillon hervor und trug es zum Fenster, um es im Licht zu betrachten.
    Doch plötzlich wurde die Welt dunkel.
    Schwindel erfasste Elena, und sie hielt sich am Vorhang fest. Bilder kreisten vor ihrem inneren Auge und gewannen nach und nach an Klarheit: das böse Lächeln einer Frau, so schön wie ein Engel, die verkrampfte Hand eines schmerzerfüllten jungen Mannes, das von einer Narbe entstellte Gesicht eines Adligen... Und dann Pinsel, Farben, eine Leinwand …
    Aber natürlich!
    Elena kehrte in die Gegenwart zurück und sah auf das Medaillon hinab.
    Das Kreuz... Sie hatte es in der Ausstellung gesehen, auf dem von Jacopo Castelli stammenden

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