Das Reliquiar
Wangen feucht von Tränen. »Da lag er, die Augen weit geöffnet«, fuhr sie tonlos fort. »Ich wusste sofort, dass er tot ist, aber sicherheitshalber habe ich Saverio gerufen, der es mir bestätigt hat. Der Arzt müsste gleich hier sein.«
»Ich gehe zu ihm«, sagte Elena und ging an ihr vorbei zur Treppe.
Marta versuchte nicht, sie aufzuhalten.
Elena erreichte das von einer Lampe am Bett erhellte Zimmer ihres Großvaters. Jemand hatte ihm die Augen zugedrückt, und so erweckte er den Eindruck, ruhig zu schlafen. Elena ergriff seine Hand und bemerkte, dass sich etwas darin befand. Sie schob die Finger beiseite und fand einen Schlüssel. Rasch steckte sie ihn ein, beugte sich dann vor und hauchte dem Toten einen Kuss auf die Stirn.
Die Stimme eines Mannes ließ sie zusammenfahren. »Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken...« Eine Silhouette zeichnete sich im Dunkeln ab, und Elena erkannte Saverio. Er machte einige Schritte auf sie zu. »Ich habe auf den Arzt gewartet und die Zeit für Gebete genutzt.«
»Verstehe. Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich mit meinem Großvater allein lassen würden. Dies sind die letzten Minuten, die wir allein miteinander verbringen können. Anschließend sprechen wir über die Anweisungen, die er mir gegeben hat.«
Der Sekretär deutete eine Verbeugung an. »Ich stehe ganz und gar zur Ihrer Verfügung, Signorina«, sagte er und ging.
Elena vergewisserte sich, dass er die Tür geschlossen hatte, nahm dann eine alte Bibel von einem Tisch, kehrte damit zum Bett zurück und legte den Eid ab, den ihr Vater verweigert hatte: Sie schwor, die Suche nach dem Kreuz von Byzanz dort fortzusetzen, wo sie unterbrochen worden war. »Auf dass Gott mir helfe, Opa, denn es wird die schwerste Aufgabe meines Lebens sein.«
10
Rom, 18. Juli 1209
»Ich brauche Geld, und das ist der letzte Wertgegenstand, den ich besitze.Was könnt Ihr mir dafür geben?«
Der Händler betrachtete erst das mit Edelsteinen besetzte Kreuz und musterte dann den jungen Mann, der es ihm zeigte. Er kannte ihn nicht, aber so schmutzig und zerlumpt, wie er war, wäre es selbst seinem Vater schwergefallen, ihn wiederzuerkennen.
Lorenzo Angelieri hatte nicht gezögert, seinen Vater zu bestehlen, um sich einer arrangierten Ehe zu entziehen und seinen Traum von Freiheit zu verwirklichen. Einen Traum, der zu einem Albtraum geworden war. Seine Naivität hatte ihn zum leichten Opfer zwielichtiger Gestalten und Betrüger werden lassen, die ihm erst das Geld und dann die Edelsteine abgenommen hatten, indem sie viel weniger für sie bezahlten, als sie wert waren. Nur das Kreuz war Lorenzo geblieben. Bisher hatte er sich nicht davon getrennt, weil er sich jedes Mal von einer abergläubischen Furcht erfasst fühlte, wenn er es in die Hand nahm. Doch es blieb ihm keine Wahl mehr.
Der Händler richtete den Blick erneut auf das Kreuz und versuchte, seine Überraschung zu verbergen. Es bestand aus purem Gold und stellte ein wahres Meisterwerk der Goldschmiedekunst dar. Die Edelsteine – Rubine, Smaragde und Saphire – waren wundervoll, ohne den
geringsten Defekt und überdurchschnittlich groß. Der Gegenstand war von unschätzbarem Wert. »Seid Ihr sicher, dass Ihr es verkaufen wollt?«
»Wie ich schon sagte: Ich brauche Geld«, erwiderte Lorenzo. »Und ich weiß, dass das Kreuz viel wert ist.«
»Nicht so viel, wie Ihr glaubt, fürchte ich«, sagte der Händler, der sich inzwischen von seiner Verblüffung erholt hatte. »Es ist schön, ohne Zweifel, aber es besteht nicht aus purem Gold, und die Edelsteine sind keineswegs makellos.«
»Wollt Ihr mich auf den Arm nehmen?«
»Wenn Ihr glaubt, dass ich Euch übers Ohr hauen will, so steht es Euch frei zu gehen. Aber seid gewiss: Ihr werdet überall die gleiche Auskunft bekommen.«
»Wie viel könnt Ihr mir geben?«
»Zweihundert Scudi, nicht einen mehr«, entschied der Händler.
Lorenzo starrte ihn ungläubig an. »So wenig?«
»Oh, das ist schon ein hohes Gebot, glaubt mir.«
»Zweihundertfünfzig, und das Kreuz gehört Euch«, entgegnete Lorenzo mit brüchiger Stimme.
Der Händler seufzte, gab vor zu überlegen und nickte dann. »Na schön. Ich gebe Euch zweihundertfünfzig, aber nur weil Ihr ein neuer Kunde seid und ich Euch Respekt bezeigen möchte...«
Lorenzo nahm das Geld und verließ den Laden, ohne sich vom Händler zu verabschieden.Als er am fast ausgetrockneten Tiber entlangging – es herrschte drückende Hitze, und seit fast zwei Monaten hatte
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