Das Reliquiar
zeigte ihm wortlos seinen Inhalt.
Nikolaus riss in verblüfftem Staunen die Augen auf. »Ein byzantinisches Kreuz!«, brachte er hervor, hob den Blick und sah die Frau an. »Darf ich es berühren?«
»Nur zu.«
Die Fingerkuppen des Goldschmieds strichen fast ehrfürchtig über das Kreuz. »Wie habt Ihr es bekommen?«
»Es ist ein Geschenk.«
»Ein sehr seltenes und wertvolles Geschenk. Dieses Kreuz ist nahezu perfekt. Schade um diese Erhöhung hier an der Seite...«
»Ein kleines Fach«, sagte Marozia. »Und es ist leer.« Sie hatte nicht lange gebraucht, das Geheimnis des Kreuzes zu entdecken. Zuerst hatte sie sich gefragt, ob Simone wusste, dass er ihr ein Reliquiar geschenkt hatte, aber das hielt sie für unwahrscheinlich. Der junge Mann war zu naiv und noch dazu abergläubisch. Es wäre ihm bestimmt nicht in den Sinn gekommen, ein solches Objekt ausgerechnet einer Prostituierten zu schenken. Daraufhin hatte Marozia überlegt, wie sie mit dem Kreuz verfahren sollte. Es war wertvoll, und zusammen mit der Reliquie noch kostbarer. Was sollte sie tun, wenn Simone es eines Tages zurückverlangte? Wie konnte sie jenes Geheimnis schützen? Schließlich war ihr eine Möglichkeit eingefallen, und als sie erfuhr, dass Nikolaus von Verdun in Rom weilte, hatte sie eine gute Gelegenheit gesehen, ihren Plan in die Tat umzusetzen. »Mein lieber Nikolaus
...«, sagte sie, während der Goldschmied noch immer das Kreuz bewunderte. »Ich möchte, dass Ihr eine Kopie für mich anfertigt.«
»Eine Kopie?«, wiederholte Nikolaus verwundert.
»Glaubt Ihr, dass Ihr dazu imstande seid?«
»Ihr wisst, dass ich dazu imstande bin. Andernfalls hättet Ihr mir diese Arbeit nicht angeboten.«
»Ihr nehmt den Auftrag also an?«
»Ja, ich nehme ihn an, aber Ihr solltet wissen, dass er Euch viel Geld kosten wird.«
»Der Preis spielt keine Rolle. Wichtig ist vor allem, dass die Kopie genauso aussieht wie das Original.«
»Wenn ich fertig bin, wird es sogar Euch schwerfallen, Original und Kopie voneinander zu unterscheiden.«
»Ah, und noch etwas: Ihr dürft niemandem sagen, woran Ihr arbeitet.«
»Aber …«
»Niemandem«, bekräftigte Marozia. »Das müsst Ihr mir schwören.Wenn auch nur ein Wort von diesem Auftrag an meine Ohren dringt, so werdet Ihr das bitter bereuen. Und Ihr wisst, dass ich nicht übertreibe.«
Nikolaus von Verdun stellte sich vor, von Annobaldis muskulösen Schergen gepackt zu werden, und er murmelte: »Na schön. Ich schwöre es.«
15
Schloss Sandriano, 8. November 2006
Elena wich Nicholas’ Fragen nach dem Telefonat aus – zunächst wollte sie für sich darüber nachdenken. Sie machten einen langen Spaziergang im Garten, wechselten dabei nur wenige Worte, und während des Abendessens sprachen sie über andere Dinge. Erst als sie im Salon vor dem Kamin saßen, brach es aus Elena heraus.
»Er hat sich über mich lustig gemacht, und das ist es vor allem, was mich so wütend macht. Wenn ich doch nur auf Marta gehört hätte! Ihr war sofort klar, dass etwas nicht mit ihm stimmte!«
»Warum hat sich der angebliche Leone als dein Cousin ausgegeben?«, fragte Nicholas. »Eine solche Schau zieht man nur ab, wenn man hofft, damit etwas zu erreichen.«
»Wir haben über verschiedene Dinge gesprochen, aber er hat mir keine besonderen Fragen gestellt. Bis auf einmal, als er wissen wollte, ob mir klar geworden sei, warum uns Großvater aus seinem Leben herausgehalten hat. Ich habe ihm geantwortet, dass ich den Grund dafür jetzt kennte, aber nicht die Absicht hätte, mit ihm darüber zu reden. Er hat noch einmal nachgehakt, ist aber anschließend nicht mehr auf das Thema zurückgekommen. Dann die Sache mit dem ›Einbrecher im Turm‹... Wir wissen allerdings, dass er dafür nicht infrage kommt.
Er hätte nicht genug Zeit gehabt, um ins Schloss zurückzukehren, und es hat in Strömen geregnet – er wäre völlig durchnässt gewesen. Und schließlich sein Ausflug an dem Tag, als Saverio starb. Aber warum hätte er den Sekretär meines Großvaters ermorden sollen? Nach seiner Abreise habe ich zu Marta gesagt, ich hätte das Gefühl, dass er zurückkehren würde, weil ihn hier etwas anzieht, auch wenn ich nicht wusste, um was es dabei ging.«
»Weißt du es jetzt?«
»Heute Morgen haben wir vermutet, dass es vielleicht die erste Frau meines Großvaters war, die die Unterlagen über Beatrice genommen und die Seiten aus dem Tagebuch gerissen hat. Der Zweite Weltkrieg stand bevor, mein Großvater suchte das Kreuz
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