Das Reliquiar
der Weltabgewandtheit abzulenken, die der Vater ihr aufzwang, unterhielt sie sich bis spätabends mit Dichtern, Musikern und Philosophen. Doch an dem Tag, als Beatrice eintraf, war Lucrezia allein und saß im prächtigen Garten des Palazzo auf einer Bank. Auf dem Schoß hatte sie ein kleines offenes Buch, doch ihr Blick verlor sich in der Ferne. Als sie das Knirschen von Schritten auf dem Kies höre, drehte sie den Kopf und lächelte. »Es freut mich, Euch wiederzusehen«, sagte sie.
»Wie geht es Euch, Freundin?«, fragte Beatrice und nahm ebenfalls auf der Bank Platz.
»Ich bin voller Kummer, wie Ihr sicher versteht. Nach
dem Hinweis meines Vaters, dass Giovanni seinem Drängen nachgegeben hat, blieb mir nichts anderes übrig, als den Aufhebungsantrag zu unterschreiben, sosehr es mir auch widerstrebte. Man hat unsere Ehe unter dem absurden Vorwand annulliert, dass sie nicht vollzogen wurde! Ich habe mir nie vorgemacht, dass Giovanni mich liebt, aber ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass er sich dem Diktat meines Vaters beugt.«
»Es tut mir leid«, murmelte Beatrice. »Ich bin sicher, dass Euer Vater Euch nicht wehtun wollte.«
»Mein Vater liebt mich auf seine Art und Weise, aber zu oft lässt er sich von Cesare beeinflussen, der Giovanni hasst. Wisst Ihr, dass er ihn töten und die Leiche in den Tiber werfen wollte? Er hat meinem Vater eingeredet, dass Giovanni nicht mehr würdig sei, mein Ehemann und unser Verbündeter zu sein. Der Vorschlag mit der Aufhebung der Ehe stammt von ihm.«
»Was habt Ihr jetzt vor?«
Lucrezia wandte sich Beatrice zu. »Das sage ich Euch, aber Ihr müsst mein Geheimnis hüten.«
»Das verspreche ich.«
»Ich habe beschlossen, mich ins Kloster der Dominikanerinnen von San Sisto zurückzuziehen, zumindest für eine Weile. Ich möchte in Ruhe nachdenken, und dafür gibt es keinen geeigneteren Ort als ein Kloster.Auf diese Weise …«
»Was tuschelt Ihr da?«
Cesare erschien wie aus dem Nichts im Garten. Beatrice war ihm über die Jahre oft begegnet und hatte dabei festgestellt, dass seine Überheblichkeit immer deutlicher wurde.
»Du siehst überall Intrigen und Verschwörungen, Bruder«, erwiderte Lucrezia und hielt seinem Blick stand. »Wir haben einfach nur miteinander gesprochen. So lange waren wir voneinander getrennt...«
»Ja, man hat mir mitgeteilt, dass Donna Beatrice gekommen ist, um dich zu besuchen. Und zweifellos auch, um dich zu trösten. Arme Schwester, von einem unwürdigen Ehemann verlassen.«
Die beiden Frauen beschränkten sich darauf, den Blick zu senken.
»Aber ich möchte euer Gespräch nicht stören.« Cesare hob einen verzierten Kasten und reichte ihn der Besucherin. »Ich bin gekommen, um Euch dies zu geben, Donna Beatrice.Vor einigen Tagen war Euer Geburtstag, und ich möchte Euch etwas schenken. Hier. Ich hoffe, es gefällt Euch.«
Beatrice öffnete den Kasten, und Überraschung und Staunen ließen ihre Augen groß werden.
Im Innern des Kastens ruhte auf karmesinrotem Samt das prächtige edelsteinbesetzte Kreuz von Byzanz.
Plötzlich fühlte sich Beatrice in ihre Kindheit zurückversetzt. Sie glaubte, auf den Knien ihres Vaters zu sitzen, der ihr erzählte, dass seine Familie seit Jahrhunderten nach einem Kreuz suchte, aus purem Gold und mit kostbaren Edelsteinen geschmückt – angeblich enthielt es ein kleines Stück von dem Kreuz, an dem Jesus Christus gestorben war. Er hatte nicht nur das Kleinod in allen seinen Einzelheiten beschrieben, sondern auch die Bemühungen seiner Vorfahren, es zu finden: lange Reisen durch ferne Länder, die niemand zuvor gesehen hatte, Begegnungen mit Feuer speienden Drachen, Kämpfe
gegen übermächtige Gegner... Hingerissen hörte sich Beatrice all die heldenhaften Geschichten an und stellte sich dabei kühne Ritter vor, die sich um den Besitz des Kreuzes duellierten. Nach dem Tod ihres Vaters hatte sie alte Dokumente gefunden, aus denen hervorging, dass diese Mission vor allem Kummer, Leid und Enttäuschung bedeutet hatte. Sie fühlte sich von ihrem Vater getäuscht, wie sie sich auch von Berta und ihrer Mutter getäuscht fühlte, die ihr von den Freuden der Ehe erzählt hatten.
Und jetzt gehörte das Kreuz ihr .
»Donna Beatrice... Fühlt Ihr Euch wohl?«, fragte Cesare mit aufrichtiger Sorge.
Beatrice brauchte ihre ganze Kraft, um die große Aufregung zu verbergen. »Das Kreuz ist... wundervoll«, flüsterte sie. »Ein sehr wertvolles Geschenk, Herr. Mir fehlen die Worte, um meiner Dankbarkeit
Weitere Kostenlose Bücher