Das Rennen zum Mars
wie Marc und Raoul polternd in die Luftschleuse einstiegen. »Wenn wir erst einmal zurück sind, wirst du diesen Zynismus schon ablegen.«
»Das ist ein genetisches Merkmal der Russen.« Er ging in die Küche, um das Abendessen zuzubereiten.
»Ich komme gleich, um dir zur Hand zu gehen, alter Brummbär«, rief sie ihm nach.
Doch vorher sichtete sie die private Post, die sich in den letzten Tagen angesammelt hatte. Zuerst kam eine lange Nachricht von Mums und Dad. Ihre Eltern saßen auf der Wohnzimmercouch. Sie lächelten zwar, wirkten aber seltsam steif. Während sie die obligatorischen Begrüßungsformeln zur Kenntnis nahm, fühlte sie sich schuldig wegen der Drohung, die Bombe vom Fumarolen-Leben von ihnen zünden zu lassen. Familienangehörige als Sprachrohr zu benutzen, war geschmacklos, selbst wenn es vielleicht notwendig war. Sie hoffte, daß es nie dazu kommen würde.
Plötzlich wurde sie aus ihren Überlegungen gerissen und setzte sich kerzengerade hin. »… anscheinend ist es ziemlich ernst«, sagte ihr Vater in seiner nüchternen Art.
Sie schaltete auf Rücklauf. Was hatte sie im Tagtraum verpaßt?
»Wir wollten, daß du es von uns erfährst und nicht über die Medien, falls die Wind davon bekommen. Das verdammte Virus hat nochmal zugeschlagen, und diesmal ist es anscheinend ziemlich ernst. Es hat sich in der Leber eingenistet und Krebs verursacht. In dieser Hinsicht ist die Erkrankung mit Hepatitis 4 zu vergleichen, nur daß sie viel schneller abläuft. Ich weiß nicht, inwieweit du über Leberkrebs Bescheid weißt. Die Ärzte sagen jedenfalls, daß kein räumlich begrenzter Tumor entstünde. Das Virus streut im ganzen Lebergewebe, so daß die Behandlung erschwert wird. Die Behandlungsmethoden sind nicht sehr angenehm: Chemotherapie, Bestrahlung, Lebertransplantation. Ich werde zunächst nichts unternehmen, sondern mich erst nach anderen Therapiemöglichkeiten erkundigen.« Er holte tief Luft, als ob er erschöpft wäre. »Tut mir leid, daß ich dich damit überfalle, wo du eh schon genug Probleme hast; aber Robbie und ich hielten es für angebracht, dir die ungeschminkte Wahrheit zu sagen.« Er lächelte matt und sank in die Kissen zurück.
Sie hielt das Band an und schaute aufs Sendedatum: vor zwei Tagen! Mein Gott. Sie wurde von einem Gefühl der Reue überwältigt.
Die Dinge hier haben mich so in Anspruch genommen … sie müssen glauben, es interessiert mich überhaupt nicht.
Sie blinzelte und fühlte einen fast körperlichen Schmerz bei der Vorstellung, daß ihre Eltern diese Sache allein durchstehen mußten.
Bill war tot, und sie war viele Millionen Kilometer entfernt. Würde sie rechtzeitig zurück sein?
Ohne sich den Rest der Nachricht anzusehen, von der sie annahm, daß sie mit ›interessanten‹ Meldungen gespickt war, sendete sie einen kurzen Gruß mit besten Wünschen und dem Versprechen, daß bald eine längere Botschaft folgen würde. Sie verspürte den Drang, ihnen von der Mars-Matte zu berichten, damit sie auf andere Gedanken kamen. Muß Axelrod bitten, daß er mir eine abhörsichere Verbindung schaltet; dann werde ich es ihnen sagen.
In ihr tobte ein emotionaler Sturm. Sie lehnte sich zurück, ordnete in einer Willensanstrengung die Gedanken und entspannte sich. Auf dem Bildschirm sah sie, daß die Dunkelheit schnell hereinbrach. Sie schaltete auf die rückwärtige Kamera, um sich den Sonnenuntergang anzusehen. Es hatte ihr immer Freude bereitet, den Sonnenuntergang auf der Erde zu betrachten; sie hatte sogar das Auto geparkt und gebannt zugeschaut, wenn ein besonders schönes Farbenspiel stattfand. Hier auf dem Mars setzte sie diese Tradition fort – wenn möglich, gemeinsam mit Viktor. Das war einer der beschaulichen Momente, die sie miteinander teilten. Raoul und Marc indes schienen kein Auge dafür zu haben.
An diesem Abend handelte es sich um einen ›Standard-Sonnenuntergang‹ – gelbe Sonne an stahlgrauem Himmel. Der Sonnenuntergang auf der Erde war flammend rot, doch auf dem Mars wich das Rot des Tages in der Dämmerung oft einem blauen Himmel. Sie starrte auf den Bildschirm, bis er schwarz wurde und schaltete dann zögerlich ab. Falls der Triebwerkstest erfolgreich verlief, hätte sie wohl die meisten Sonnenuntergänge auf dem Mars gesehen.
Sie schwankte zwischen dem Wunsch, hierzubleiben und zur Erde zurückzukehren. Der Abschied würde ihr schwerfallen, denn sie wußte, es wäre für immer. Sie hörte, wie Viktor eine Tür weiter in der Küche mit dem
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