Das Riff der roten Haie
tongaischen und die englischen Worte, die ihm seine Mutter beibrachte. Ob es Lanei'ta so wollte, ob sie ihm verboten hatte, zu den anderen Kindern zu gehen, oder ob Jacky es instinktiv erahnte – Ron wußte es nicht.
Er warf ihm die Kugel zu. Und siehe da – sie klingelte!
Jacky ließ seine Muscheln fallen und warf sich mit einem Freudenschrei darauf, hob sie hoch, warf sie in die Luft, rollte sie über den Boden – sie klingelte unentwegt weiter.
Zufrieden ging Ron auf Lanei'tas Fale zu … Er mußte mit ihr wegen Jacky reden. Unbedingt!
Drinnen im Haus herrschte eine angenehme, kühle Dämmerung. Es war wie immer: jedesmal, wenn er durch die Tür trat, zog sich ihm der Magen leicht zusammen, und er empfand eine Mischung aus Unbehagen und Spannung.
»Hallo, Lanei'ta! Stör' ich?«
»Oh nein … Warum?«
Sie sprachen englisch, wenn sie zusammenkamen. Auch das war ein Wunsch Lanei'tas. Da stand sie, den Rücken zum Eingang gekehrt, stand in ihrer gottverfluchten Reliquienecke und ordnete irgend etwas.
»Tama hat mich geschickt.«
»Ja, ich weiß … Ich hab' den Yam schon im Topf. Aber setz dich mal. Ich komme gleich …«
Jack war Neuseeländer gewesen, und Lanei'ta hatte sich seine weiche, abgeschliffene Aussprache bewahrt. Sie sprach ein unbefangenes, freieres Englisch als Tama, was vermutlich auf ihr nächtelanges Radiohören zurückzuführen war. Ron sah, daß sie dabei war, einen Strauß Hibiskus auf dem kleinen Ecktisch zu arrangieren: dem Tisch mit dem Steuerknüppel …
Er setzte sich und beobachtete sie.
Lanei'ta besaß denselben schlanken, gutgebauten Körper wie ihre Schwester. Auch ihr fiel das Haar dunkelschimmernd in weichen Wellen bis zur Hüfte, und so, im Halbdunkel, hätte dort auch Tama stehen können. Die Ähnlichkeit der Schwestern hatte Ron schon einige Male zu dem Gedanken verführt, was wohl geworden wäre, wenn damals Tápana ihm Lanei'ta statt Tama in die Hütte gesandt hätte. In seinem Elend, in seiner Einsamkeit war er so aufnahmebereit wie ein unbeschriebenes Stück Papier gewesen und so dankbar für jede Nähe … Aber um Lanei'ta warb in dieser Zeit einer der Söhne Antaus. Ron dankte manchmal dem Schicksal dafür …
Nun drehte sie sich um.
Lanei'ta war zwei Jahre jünger als Tama, ihr Gesicht wirkte jedoch reifer als das der Schwester.
»Hör mal, Lanei'ta! Tama meint, wir könnten abends wieder mal zusammen essen.«
Das hatte Tama zwar nicht gesagt, sie war so hundemüde, wie er an diesem Tag, aber er wollte, er mußte den Satz loswerden. Schon um ihr Kopfschütteln zu erleben.
Und da kam es.
»Lanei'ta …« Er beherrschte sich. »Lanei'ta, ich will dich was fragen.«
»Ja.«
»Sieh mal, Jack war auch mein Freund. Ich kannte ihn sehr, sehr gut. Auch, wie er dachte … Glaubst du wirklich, es würde ihm gefallen … ich meine, glaubst du, es wäre in seinem Sinn, daß du dich so … nun, wie soll ich sagen – abkapselst, vom Leben abschneidest, wie du das jetzt tust?«
Die Antwort überraschte ihn. »Nein«, sagte sie. Sie sagte es auf tongaisch: »Ikai.«
»Und warum …?«
Sie hob die Hand. »Bitte …«
»Was denn – bitte?«
»Ich will nicht darüber reden.«
»Das sollten wir aber.«
»Ja, das sollten wir …« Sie nickte feierlich. Und Ron sah, wie sich ihr Mund bewegte, um nach Worten zu suchen, und dann sah er, daß ihre Augen feucht aufschimmerten. Sein Herz zog sich zusammen. »Jack will das sicher so, du hast recht … aber …«
»Ja?«
»Ich kann nicht, Ovaku. Noch nicht … Ich bin nicht soweit.«
Ron nickte. Es lief stets auf dasselbe hinaus.
Aus der Ecke funkelte Jacks verfluchtes Zigarettenetui. Plötzlich schoß heftige Wut in Ron hoch. Wieso schmiß er den ganzen Krempel, einschließlich Steuerknüppel nicht durchs Fenster in den Garten, nahm Lanei'ta einfach an der Hand, knallte ihr eine, falls sie sich wehren sollte, schnappte sich auch noch den Kleinen und schleppte beide zu sich ins Haus? Jack hätte es vermutlich so gewollt …
Ich bin zu feige, das ist es … Und noch was anderes kommt dazu: Wäre sie eine Palangi, würde sie so denken und fühlen wir wir, dann wäre alles so viel einfacher. Ich hätte meine Argumente, könnte sie überzeugen, den Psychologen spielen … Aber so? Was soll ich tun, Jack? Du weißt doch selbst, wie das ist: Sie haben nun mal ihren Totenkult, ihre Geister-Tradition. Seit Jahrhunderten ist es in ihrem Blut, vielleicht seit Jahrtausenden. Und nun verwirrt sich in Lanei'tas armem Kopf alles zu
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