Das Ritual der Gleißenden Dämonen (German Edition)
statistischen Daten, aber je länger die beunruhigend hohen Zahlen blieben, desto weniger konnte man sich mit ungenügenden Stichproben, harten Wintern oder zu heißen Sommern herausreden.
Verdächtigungen fielen in jede Richtung, von der behaupteten Inkompetenz der Direktorin bis hin zu angeblicher Schizophrenie eines Pflegers. Und anscheinend, schloss Anna, war auch die empfindsame Seele des Nachtpförtners Ziel bösartiger Unterstellungen gewesen. Im Gegensatz zu Direktorin, Pfleger und allen anderen, über die geredet wurde, hielt er das Getuschel offenbar nicht mehr aus und kündigte aus freien Stücken.
Soweit die Informationen. Wie aber ihn finden? Denn dass sie ihn finden musste, wollte sie jemals wieder glücklich sein, das war ... einfach eine Selbstverständlichkeit. Doch sie kannte nichts außer seinem Vornamen – Simon – und es hätte doch gar zu merkwürdig gewirkt, wenn sie sich nach seiner Personalakte erkundigt hätte. Oder? Oder vielleicht doch nicht ...
Die Entscheidung wurde ihr aus der Hand genommen, als Simon ihr – ihr, der jungen Nonne, dem kleinen Schwarzkittel, der göttliche Simon – einen Brief schrieb. Er arbeite nun zeitweise in Frankfurt, zwar nicht das ganze Jahr über, aber regelmäßig, und da er den Eindruck habe, ihr liege ebenfalls an den nun ausgesetzten nächtlichen Unterhaltungen, wolle er in aller Bescheidenheit den Vorschlag unterbreiten, sie möge sich doch dorthin versetzen lassen, wenn ihr Orden das für sinnvoll hielt.
Noch im selben Jahr begann sie in Frankfurt mit Obdachlosen zu arbeiten.
Aber Simon hielt seine Besuche in der Goethestadt knapp, nie kam er so häufig, wie er versprach, und dennoch hatte sie keine Wahl, als immer wieder auf ihn zu warten.
Dann begann er, sie um kleinere Gefallen zu bitten. Einen Brief übergeben, ein Päckchen, eine mündliche Botschaft ausrichten. Er wollte sie sogar dafür bezahlen, doch sie weigerte sich, von ihm Geld anzunehmen.
Die Gefallen wurden zu Aufträgen, die Aufträge zu Projekten. Neben und während ihrer Arbeitszeiten investierte sie immer mehr Zeit und Energie in die kleinen und großen Dinge, die sie für Simon erledigen sollte.
Als sie eines Tages die Leiche im Kofferraum eines Autos entdeckte, das sie an einem bestimmten Parkplatz hatte abstellen sollen, stellte sie ihn zur Rede. Und er begann zu erzählen, von Dämonen der Nacht und von Jägern und Gejagten, von mächtigen Vampiren und schutzlosen Sterblichen. Schutzlos, wenn sie nicht die Protektion eines Untoten genossen ...
Dann hatte er sich über sie gebeugt, und mit dem Schmerz an ihrem Hals war eine Wonne in sie gefahren, wie sie es noch nie erlebt hatte.
Nach diesem Vorfall hatte sie seine Aufträge nicht mehr hinterfragt. Zu groß war die Angst, dass die Besuche, die Protektion, die nächtlichen Bisse dereinst ausbleiben könnten, und das wäre unerträglich gewesen.
Aber jetzt war Schluss damit! Die Sache mit diesem Mädchen hatte ihr die Augen geöffnet. Sie hatte sich tatsächlich dazu hergegeben, das war schlimm, und vielleicht würde es ihr die Pforten des Himmels auf ewig verschließen. Aber es war besser, spät zur Vernunft zu kommen als niemals. Dies war ihr letzter Auftrag gewesen! Auf Nimmerwiedersehen, Simon!
Vielleicht lebte die Kleine ja noch? Anna rief das Haus Zuflucht an und ließ sich die Leiterin geben. Aber wie sie befürchtet hatte, stellte sich heraus, dass Lea dort nicht erschienen war.
Ihr Herz hämmerte. Sollte sie am Flughafen anrufen? Anonym die Universitätsklinik verständigen, damit Rettungswagen die Straßen nach der zusammengesunkenen Gestalt einer Fünfzehnjährigen durchkämmten?
Oder einfach den Realitäten ins Auge schauen? Palazuelo hatte einen Ruf. Je mehr Geschichten man über ihn hörte, umso eher musste man zu dem Schluss kommen, dass Iwan der Schreckliche und Attila der Hunne die netteren Nachbarn wären. Palazuelo würde nichts dem Zufall überlassen, schon gar nicht die Wirksamkeit eines Giftes. Es müsste schon ein absolut unwahrscheinliches Ereignis sein, das Leas Leben noch retten könnte, etwas Wunderbares, Strahlendes, Paradiesisches. Was immer es sein mochte, verdient hätte sie es, die arme Kleine.
48. Kapitel
Sie erwachte durch den Gestank. Er war da, noch bevor sie die Kälte spürte.
Der scharfe, saure Geruch ätzte sich in ihre Nasenlöcher und kroch klebrig in ihre Bronchien, bis sie ein Hustenanfall schüttelte, der direkt in einen weiteren Brechkrampf überging.
Lea
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