Das Ritual der Gleißenden Dämonen (German Edition)
das sie in der Bahnhofsmission überfallen hatte, war ihr klar geworden, dass sie ihre Mutter nie hätte allein lassen dürfen mit dem Ungeheuer. Sie musste ihre Ma dort rausholen!
„Nächster Halt: Eschersbach“, schepperte es aus dem Lautsprecher. Schon? Konnte es nicht noch fünf Minuten dauern? Sie musste sich erst noch ein wenig sammeln.
„Quatsch! Los jetzt!“, zischte sie zu sich selbst, sprang auf, drückte den grünen Knopf neben den Türen und hechtete hinaus, sowie sie sich geöffnet hatten.
Sie wollte den ganzen Weg bis nach Hause rennen – es konnte auf jede Sekunde ankommen, vielleicht hing er jetzt gerade an ihrem Hals – aber bald merkte sie, dass ihre körperliche Verfassung immer noch nicht die beste war: Die mangelhafte Ernährung und ihre wachsende Verzweiflung hatten an ihrem Körper gezehrt. Zudem begann auch das verletzte Bein nach ein paar Hundert Metern wieder zu pochen, und sie gab erschöpft und enttäuscht auf.
In Sport war sie immer ganz gut gewesen. Verdammt, was war bloß aus ihr geworden?
Sie schleppte sich den Rest der Strecke dahin, und dann stand es vor ihr, das Haus, und die Erinnerung an Weihnachtslieder und Fußball auf dem Rasen wechselte sich ab mit dem Bild von ihrem Vater, der sie in seinem Büro anschrie und den Rachen aufriss wie ein wildes Tier ...
Sie gab sich einen Ruck und ging zur Haustür, klingelte zunächst, um Missverständnisse zu vermeiden – da ihre Mutter kaum damit rechnen konnte, dass sie kam, würde sie wohl eine heimlich eintretende Person für einen Einbrecher halten.
Als niemand öffnete, drehte sie sich um und wollte den Schlüssel aus seinem Versteck holen, als sie geradewegs in Valeskas Arme lief.
„Komm doch herein“, sagte die Mutter lakonisch, nachdem sich die beiden eine Weile angeschwiegen hatten.
„Ich muss mit dir reden, Ma“, entgegnete die Tochter.
„Das ist gut.“ Der Schlüssel drehte sich im Schloss.
„In der Zeit, als ich weg war, ist mir einiges klargew---“
Der Rest blieb Lea im Halse stecken, als sie den zu Boden gefallenen und zerbrochenen Wandspiegel sah.
Sie drängte sich an ihrer Mutter vorbei ins Haus. „Was zum---“
Die Wandgarderobe war mitsamt Dübeln herausgerissen worden, Jacken und Mäntel verteilten sich auf dem Boden. Sie lief in die Küche. Die Küchenuhr lag in Scherben auf dem Tisch, sie war stehengeblieben um 20 Uhr 30 – vor noch nicht mal einer halben Stunde, registrierte Lea mit einem Blick auf den Radiowecker.
Atemlos rannte sie die Kellertreppe hinunter, schlug den Deckel der großen Holzkiste auf – leer –, lief wieder hoch und weiter bis in den ersten Stock.
Das Büro lag völlig verwüstet vor ihr. Der einzige Gegenstand, der absolut unversehrt war, schien der Computer zu sein. Ansonsten: ein eingeschlagenes Fenster, ausgerissener Teppichboden, der Schreibtischstuhl ohne Lehne, die Lehne wiederum in einem der Wandschränke, dessen Tür zersplittert war. Ein Kofferradio, das in der Ecke lag und sinnlos vor sich hin dudelte. Und Blut. Blutspuren auf dem Fußboden und an verschiedenen Gegenständen.
Valeska kam hinter ihr her. Als sie das Schlachtfeld sah, fiel ihr die Kinnlade herab, sie sank zu Boden und starrte ins Leere.
„Mama, was war hier los!?“, schrie Lea verzweifelt.
Als Antwort erhielt sie nur ein ungläubiges Kopfschütteln.
„Wo ist Papa?“
„Ich ... ich weiß es nicht. Er war hier, als ich ging. Ich war weg ... ich ... mein Gott, wenn ich nur hier gewesen wäre.“
„Ja“, erwiderte Lea verbittert, „du hättest einen prima Depp auf dem Dachboden abgegeben.“
„Wie bitte?“
„Nichts.“ Ihre Gedanken flogen im Eiltempo. Ihr Vater war hier gewesen. Dann konnten die Verwüstungen nur die Spuren eines Kampfes sein, an dem er beteiligt war. Einbrecher? Lächerlich. Hans Leonardt, der Vampir, hätte mit jedem Einbrecher kurzen Prozess gemacht. Auch mit mehreren. Auch mit bewaffneten.
Die einzigen Personen, von denen sie wusste, dass sie sich einen zumindest ebenbürtigen Kampf mit ihm liefern konnten, waren ...
„Sie haben ihn nach Prag gebracht“, murmelte sie, „wenn er überhaupt noch lebt.“
„Prag? Du meinst, es waren seine ... äh, Kunden? Warum sollten sie das tun? Und dann auf eine so schreckliche Weise! Er ist doch immer freiwillig zu ihnen gegangen, wenn sie ihn gerufen haben. Das ergibt keinen Sinn!“
Ja, warum? Auch Lea fand, dass es keinen Sinn ergab. Ihr Vater war ein Monster, sie waren Monster. Alle
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