Das Ritual der Gleißenden Dämonen (German Edition)
auswirken. Es ist vielleicht kein Zufall, dass die Attacke ausgerechnet jetzt auftrat. Wie ging es denn vonstatten? War da wieder der Schwarze Mann, der dich erschießen wollte?“
Lea dachte nach. Dann nickte sie stumm.
„Bist du der Ansicht, dass du dir irgendetwas zu Schulden kommen ließest, womit du es verdient hättest, dass er dich tötet?“
Schon wieder spürte sie Tränen in sich aufsteigen. Ihre Sicht verschwamm, sie blickte angestrengt nach oben, bis sie die Flüssigkeit wegblinzeln und weitersprechen konnte, ohne zu weinen.
„Mag sein“, flüsterte sie.
„Und was hast du Schlimmes getan, Lea?“
„Ich habe letzte Woche versucht, meinen Vater zu töten, wenn Sie so etwas meinen.“
„Wie wolltest du das denn bewerkstelligen?“ Brenner blieb ganz ruhig. Zu ruhig, fand Lea.
„Das verrate ich Ihnen, wenn ich weiß, ob Sie mir glauben und ernst nehmen, was ich sage.“
„Natürlich nehme ich es ernst. Man muss jede solche Äußerung ernst nehmen.“
„Aber glauben wollen Sie mir nicht?“
„Doch, ich glaube dir, dass du mit jeder Faser deines Körpers den unbezähmbaren Wunsch verspürtest, ihn ein für allemal loszuwerden. Wir Ärzte nennen so etwas einen pubertären Ablösungsprozess. Sehr dramatisch für alle Beteiligten, aber aus medizinischer Sicht ganz normal und sogar gesund. Besonders wenn ein sehr enges Vater-Tochter-Verhältnis besteht, wie ihr es ja immer hattet, ist mit solchen ablehnenden Gefühlen zu rechnen. Und auch mit den Schuldgefühlen, die dann auf dem Fuße folgen, weil du dir diese Ablehnung nicht zugestehen willst. Ich weiß, dir erscheint das jetzt bestimmt wie das Ende der Welt, aber in spätestens einem Jahr, wenn du zu einem neuen, eigenständigen, erwachsenen Verhältnis zu deinen Eltern gefunden hast, wirst du wissen, wozu dieser Prozess gut war. Übrigens, wie geht es deinem Vater?“
„Nicht gut. Überhaupt nicht gut.“
„Da haben wir doch schon einmal einen Ansatz für die Schuldgefühle, die unseren Schwarzen Mann evoziert haben könnten. Ist er krank? Dann schick ihn gleich bei mir vorbei.“
„Er ... wurde überfallen.“
„Mein Gott. Und du warst in der Nähe?“
Wieder nickte sie.
„Wie geht es ihm jetzt?“
„Ich ... weiß es nicht. Er hat sich verändert.“
Brenner stand auf und ging zu Lea hin. Der abgestandene Geruch seiner starken Zigaretten umwehte sie. „Meine Güte, Kind, da würde ja jeder in deinem Alter zusammenbrechen. Kein Wunder, dass du dir eine wenn auch noch so unberechtigte Mitschuld gibst. Noch dazu, wo du den Eindruck hast, er habe sich nachhaltig verändert.“
„Das hat er.“
„Nichts ist endgültig. Er hat sicher auch noch mit den Ereignissen zu kämpfen, aber eines Tages wird er die Geschichte verarbeitet haben, und ich bin sicher, er wird dir keine Schuld zuweisen. Was hättest du schon tun können?“
„Ihn retten. Ihn wegbringen. Irgendetwas.“ Sie spürte, dass diese Antwort unbefriedigend war. Aber verdammt, irgendetwas hätte sie getan. Wenn sie nur rechtzeitig dort gewesen wäre!
„Lass uns Folgendes vereinbaren, Lea: Du kommst zu mir, wann immer du dich lausig fühlst. Es ist mein Beruf und meine erklärte Lebensaufgabe, mich um meine Patienten zu kümmern, und dazu gehört auch die Konversation. Ich verspreche dir, dass ich nicht versuchen werde, irgendetwas aus dir herauszuquetschen, und du versuchst, dein Misstrauen gegenüber einem Erwachsenen ein wenig zu überwinden. Du wirst jetzt bald selbst zu diesen Erwachsenen gehören, weißt du?“
Das Gesicht ihres Vaters erschien in ihrem Kopf. „Es mag noch einen Unterschied machen, zu welcher Art von Erwachsenem man wird“, sagte sie vorsichtig.
„Zweifellos. Fürs Erste verschreibe ich dir etwas zum Entspannen und gegen die Schlechtigkeit der Welt als solcher. Es heißt Faustan. Du nimmst jeden Morgen eine halbe Tablette, nicht länger als eine Woche. Dann treffen wir uns wieder, und ich werde dich noch einmal untersuchen. In der Zwischenzeit habe ich vor allem einen ärztlichen Rat an dich: Sieh zu, dass du psychisch wieder auf den Damm kommst! Du hast dir nichts vorzuwerfen. Rede mit jemandem, auch über andere Dinge, die nichts mit deinem Problem zu tun haben. Geh aus, triff dich mit Jungs, du bist ja genau im richtigen Alter, um Spaß zu haben. Probleme wird es immer geben, wir dürfen nur nicht zulassen, dass sie Gewalt über uns haben.“
Im kalten Wind des letzten Oktobertages streifte Lea grübelnd durch die Straßen.
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