Das Ritual der Gleißenden Dämonen (German Edition)
nur ... Henri hat bestimmt übertrieben.“
„Nichts Falsches. Nein. Sei ganz beruhigt. Mir ist nur nicht ... mir ist schlecht ...“
„Soll ich dich nach Hause bringen?“
„Geht schon.“
Sie sprang auf, eilte nach draußen und ließ den völlig verwirrten Timm Winckelmann allein zurück.
Er starrte lange auf ihr volles Rotweinglas. Dann stand er langsam auf, nahm es vorsichtig in die Hand und schleuderte es mit voller Wucht an die gegenüberliegende Wand.
„Ich hatte sechs Richtige“, schrie er den anderen Gästen zu, die ihn mit großen Augen anstarrten, „und ich habe den Tippschein aus dem Fenster geworfen!“
Draußen atmete Lea die kalte, klare Luft ein und beruhigte sich wieder ein wenig. Aber was sie so aufgeschreckt hatte, blieb bestehen. Während sie nach Hause lief, warf sie den Sachverhalt wieder und wieder in ihrem Kopf hin und her.
Jemanden totschlagen. Nicht mal gemerkt.
Es war eine Krankheit, sie hatte einen Anfall gehabt, aber jetzt war doch alles wieder unter Kontrolle. Oder? Timm hatte recht, Henri musste übertrieben haben, wahrscheinlich wollte er sich nur großtun. Sicher hätte man sie nicht mit ein paar Pflastern auf den aufgeschnittenen Händen und einem Beratungsgespräch mit dem Hausarzt davonkommen lassen, wenn sie wirklich eine Gefahr wäre. Oder?
Aber selbst wenn sie niemanden akut gefährdet hatte, es lief doch alles immer wieder auf denselben unerträglichen Gedanken hinaus:
Was unterschied sie eigentlich von dem Monster in ihrem Keller?
Aber nein, das konnte nicht sein, sie war ein Mensch, und er war es nicht ...
... aber sie hätte jemanden töten können, ohne es zu merken. Ohne etwas dagegen tun zu können. Und war es nicht genau das, was ihrem Vater passiert war? Hatte man ihn nicht – wie sie selbst – gegen seinen Willen in diesen Zustand versetzt? Sie hatte seine Augen gesehen. Den Verlust jeglicher Kontrolle darin, als er das erste Mal das Ungeheuer in sich gezeigt hatte. Totschlagen. Nicht mal gemerkt.
Plötzlich hielt sie inne, weil sie das Gefühl hatte, dass ihr jemand folgte. Sie sah sich kurz um, bemerkte aber niemanden und setzte ihren Weg fort. Sie kannte dieses Gefühl. Seit sie klein war, passierte es ihr immer mal wieder, dass die Schatten hinter ihr lebendig wurden. Aber sie hatte es nie als bedrohlich empfunden, eher so, wie die anderen Mädchen in einem bestimmten Alter überall Feen und Elfen gesehen hatten, so hatte sie eben ihre unsichtbaren Begleiter, schon so lange, dass sie gar nicht mehr darüber nachdachte.
Also machte sie sich auch diesmal keine Sorgen deswegen. Sie lief einfach weiter nach Hause und nahm sich schweren Herzens vor, die Kontaktsperre zu ihrem Vater, dem Vampir, aufzugeben. Sie musste mit ihm reden. Vielleicht war noch nicht alles verloren. Vielleicht (nein! das konnte nicht sein!) waren sie sich sogar ähnlicher, als es den Anschein hatte.
Grübelnd bog sie um die Ecke und verschwand in der Herbstnacht. Unmittelbar danach trat aus dem Schatten einer Thuja-Hecke, die einen Garten zur Straße hin begrenzte, eine hünenhafte Silhouette und sah in die Richtung, in die Lea gegangen war.
„Nicht mehr lange“, brummte die Gestalt und rieb sich mit der Linken den kurzen Irokesenschnitt, „nicht mehr lange.“
Jörg Uglik fletschte die Zähne zu einem Ausdruck, den er für ein Lächeln hielt.
34. Kapitel
Einunddreißigster Dezember.
Hans Leonardt stand mit hinter dem Rücken verschränkten Händen am Fenster des Hotelzimmers und blickte in das dunkle Schneegestöber, das draußen vor sich ging. Der Wind pfiff durch einen Ritz im Fensterrahmen, während der Programmierer versuchte, in diesen letzten Stunden vor dem Jahreswechsel die vergangenen Wochen Revue passieren zu lassen.
Gute zwei Monate war es jetzt her, dass er so geworden war. Er wusste nicht viel über seinen Zustand, nur, dass es die reale Entsprechung dessen zu sein schien, was in der Literatur als Vampirismus bezeichnet wurde. Zumindest war da dieser Hunger, dieser Durst, beide Worte trafen das Gefühl im Grunde nicht, waren in ihrer Direktheit aber immer noch besser als umständliche Umschreibungen. Und es war klar, es war von vornherein ganz unzweifelhaft gewesen, wie er seinen neuen Hungerdurst zu stillen hatte.
Mit Blut.
Er war über sich selbst entsetzt gewesen, als er das gemerkt hatte. Jegliches Bedürfnis nach anderen Nahrungsmitteln war verschwunden. Und als Lea hereingekommen war, ihn auf dem Hotelbett sitzen gesehen hatte,
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