Das Ritual der Gleißenden Dämonen (German Edition)
war da nicht sein Blick zuerst auf ihren Hals gefallen?
War er ein Monster?
Er wusste es nicht. Er wusste so vieles nicht über das, was er nun war. Würde er tatsächlich nicht mehr älter werden? Ewig leben? Würde er noch weitere besondere Kräfte entdecken, die ihn über die Normalsterblichen erhoben, so wie er bereits seine erstaunliche Geschwindigkeit entdeckt hatte? Würde man ihn fürchten? Oder gar nicht weiter beachten, solange er sich unauffällig verhielt?
An seinen Gefühlen hatte sich zunächst offenbar wenig verändert. Er liebte seine Frau und seine Tochter nach wie vor, und es brach ihm das Herz, dass Lea nicht mit ihm sprechen wollte.
Aber es war seine eigene Schuld, nicht wahr? Er hatte seine Chance gehabt, mit ihr Frieden zu schließen. Vor einer Woche, am Heiligen Abend. Allein der Gedanke an die Vorkommnisse ließ ihn in stummer Verzweiflung die Fäuste ballen. Er musste mehr über sich erfahren, wenn er jemals Frieden finden wollte. Jetzt sofort.
Er wandte sich langsam, vorsichtig um und sah hinüber zu Julio Palazuelo, der am Tisch saß und die neuesten Pläne des Sicherheitssystems studierte.
„Legen Sie niemals diesen Mantel ab?“, fragte er ihn, um etwas zu sagen und vielleicht ein Gespräch in Gang zu bringen.
„Nur zu besonderen Anlässen“, brummte der Spanier unter seiner Kapuze.
„Was halten Sie von den Entwürfen?“
„Inhaltlich vielversprechend. Das biometrische System im Verbund mit der Spracherkennung sollte Doña Elisa überzeugen. Allerdings“, fuhr er mit finsterer Miene fort, „hatte ich damit gerechnet, dass Sie zu diesem Zeitpunkt schon weiter vorangeschritten wären.“
„Offensichtlich gibt es da einige ... Anpassungsschwierigkeiten, mit denen ich zu tun habe.“
„Dann lösen Sie sie. Sie haben einen Auftrag zu erfüllen.“
„Ich könnte ihn wesentlich besser erfüllen, wenn ich mehr wüsste.“
„Wir haben Ihnen alle notwendigen Informationen über das Anwesen gegeben.“
Hans beugte sich über den Tisch zu ihm hinüber. „Sie wissen genau, was ich meine, Palazuelo. Es wird Zeit, dass Sie die Karten auf den Tisch legen. Was bin ich? Wer bin ich? Und wie kann ich in diesem Zustand anderen Menschen begegnen? Sie müssen es mir sagen, Sie müssen! Glauben Sie, Sie können mich benutzen wie eine Spielfigur? Sie müssen mir erklären, was geschehen ist!“
„Ich bin Ihnen keinerlei Rechenschaft schuldig“, erwiderte Palazuelo, ohne aufzublicken.
„Lassen Sie mich Ihnen eine Geschichte erzählen, Señor Palazuelo.“ Hans entfernte sich wieder von dem Schreibtisch und begann, im Zimmer auf und ab zu laufen. „Die Geschichte handelt von einem Vater und seiner Tochter. Die beiden haben es nicht immer einfach miteinander, aber im Grunde ihres Herzens lieben sie sich. Beide versuchen, trotz widriger Umstände ihren Weg zueinander wieder zu finden. Beide sind überzeugt, dass ihnen das eines Tages gelingen wird. Beide würden ihren rechten Arm dafür hergeben. Oh ja, die Geschichte könnte wirklich gut ausgehen. Aber dann bricht eines Nachts ein großer Bär im Eschersbacher Museum für Regionalgeschichte ein.“ Er holte tief Luft; zwar hatte er bereits gemerkt, dass er jetzt im täglichen Leben auch ohne Atmung ganz gut zurechtkam, aber zum Reden war sie nach wie vor unentbehrlich.
„Ich weiß, dass Sie dieser angebliche Bär waren, Palazuelo. Ich habe die Manipulationsversuche an der Alarmanlage analysiert. Ein Bär, ha! Ein Bär mit profunden Computerkenntnissen. Und seit wann könnte ein Bär im offenen Gelände einen bewaffneten Polizisten so übel zurichten, ohne dass der ihn erschießen würde? Aber ich will nicht abschweifen. Meine Geschichte geht noch weiter. Kurze Zeit nach dem Auftritt des Bären erhält also besagter Vater einen großen Auftrag. Die Dinge scheinen sich zum Besseren zu entwickeln. Für kurze Zeit hofft er, dass jetzt endlich alles gut wird. Und dann ... eines Tages ... hängt der Lakai seiner Auftraggeberin plötzlich an seinem Hals und saugt sein Blut. Er aber stirbt nicht, nein, stattdessen verändert er sich. Er hält seine Blutgier mit Ratten und streunenden Katzen im Zaum. Aber seine Tochter, die er immer noch über alles liebt, sie hält ihn für eine Bestie, sie meidet ihn, erklärt ihren Vater gar für tot.
Dann aber gerät sie ins Nachdenken. Ob er vielleicht doch noch ihr Vater sein könnte? Es nähert sich Weihnachten. Das Fest der Liebe. Ihre Mutter überredet sie schließlich, dem Vater eine Chance zu
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