Das Ritual der Gleißenden Dämonen (German Edition)
geben. Am 24. Dezember, natürlich nach Sonnenuntergang, will sie sich mit ihm treffen, um zu reden. Danach, sagt sie ihrer Mutter, will sie entscheiden, was weiter zu tun sei.
Der Vater ist überglücklich. Die Nacht davor verbringt er mit nichts anderem als mit Nachdenken darüber, wie er ihr begegnen kann, was er sagen soll, wie es ausgehen wird. Erst kurz vor dem Morgengrauen bemerkt er, dass ihn schon wieder ein quälender Hunger heimsucht. Die kleinen Tiere, mit denen er diese Gier stillt, halten nie sehr lange vor, und danach ist der Hunger nur umso schlimmer. Er muss Nahrung finden, sonst kann er seiner Tochter am folgenden Abend nicht gefahrlos gegenübertreten. Aber die Sonne nähert sich, und so wenig er über sich selbst weiß, so sehr spürt er die Gefahr, die von ihren Strahlen ausgeht.
Er rennt hinaus in die letzten Minuten der Nacht und sucht verzweifelt etwas zu essen. Im letzten Moment entdeckt er in einem Hinterhof eine Ratte. Voller Verzweiflung, weil er weiß, dass jede verzögerte Sekunde seinen qualvollen Tod bedeuten kann, schnappt er das Tier und beißt ihm den Hals durch, trinkt es schnell und gierig aus und wirft den Kadaver auf die Straße. So schnell er kann – und das ist jetzt sehr schnell – rennt er zurück nach Hause, nur weg von den sengenden Strahlen, und als er schon spürt, wie seine Haut langsam aufheizt, gelingt es ihm, sich in seiner sicheren Zuflucht zu verbergen. Sofort fällt er in tiefen Schlaf.
Nun ist es Heiliger Abend. Er öffnet den Deckel der Kiste, in der er sich tagsüber verstecken muss, und blickt in die Gesichter seiner Familie. Aber etwas stimmt nicht. Sie starren ihn an, entsetzt, schockiert. Lea ... seine Tochter beginnt zu weinen und läuft davon. Seine Frau fasst sich reflexhaft an ihren Mundwinkel. Und nun dämmert es ihm: Es war zu schnell gewesen, zu hektisch, er hatte getrunken, nein: gesoffen , und dann war er in seinem dunklen Loch verschwunden und hatte an nichts mehr denken können außer an die todbringende Sonne, den Keller, die rettende Kiste.
Er hatte sich nicht mehr im Spiegel betrachten können. Nicht mehr nachdenken können. Sonst hätte er gesehen, gemerkt, zumindest befürchtet, dass das Blut des Tieres seine Mundwinkel herunterrann, sein Kinn. Er hätte es abwaschen können, anstatt es in der absoluten Dunkelheit seiner Holzkiste mit den Händen noch weiter zu verteilen.
Aber er hat es nicht gemerkt. Als ihn seine Familie erblickt, sieht er aus, als käme er gerade aus der Schlachterei. Seine Tochter, die eben erst wieder zaghaft ein gewisses Vertrauen gefasst hatte, muss ihn für einen Massenmörder halten, einen Amokläufer. Ein Monster. Und alle Bemühungen seiner Frau um Vermittlung scheinen auf ewig gescheitert zu sein.“
Wieder stützte sich Hans auf den Schreibtisch und beugte sich vor, bis sein Gesicht ganz nahe bei Palazuelos undurchdringlicher Kapuze war. „Und das quält diesen Vater, verstehen Sie das, Palazuelo? Es quält ihn und beschäftigt ihn von der ersten Minute einer anbrechenden Nacht bis zum ersten Strahl des Morgengrauens. Er muss zusehen, wie es seiner Tochter immer schlechter geht, schlechter mit jedem Tag, weil sie um ihn trauert. Um seinen Verlust! Er will ihr zurufen: Ich lebe! Ich bin nicht tot! Aber sie hört ihn nicht. Sie lebt in ihrer eigenen, traurigen Welt, in der es statt ihres Vaters nur noch ein mordendes Ungeheuer gibt. Es ist verdammt nochmal unfair, Palazuelo, hören Sie mich? Sie haben mich nie gefragt, ob ich es wollte! Sie sind in mein Leben eingedrungen und haben meine Familie zerstört! Und jetzt wollen Sie mir noch nicht einmal die Informationen geben, die ich brauche, um zumindest meine eigene Existenz zu verstehen!“
Das Blut der Katze, die er am frühen Abend getrunken hatte, stieg ihm nun als Zornesröte ins Gesicht, während seine Augen fest auf den Vampir gerichtet waren, dem seine Anklage gegolten hatte. Einige Sekunden lang schien der Raum wie eingefroren zu sein. Nichts bewegte sich, niemand atmete, kein Geräusch war zu hören.
Dann sah Palazuelo langsam von seinen Dokumenten auf. Seine in dunklem Rot glühenden Augen fixierten Hans so lange, bis dessen Wut einer seltsamen Unsicherheit, einem Schwächegefühl wich und er blinzeln und schließlich wegschauen musste.
„Rattensäufer.“ Palazuelo spie das Wort geradezu aus. Dann schloss er den Aktenordner, nahm ihn unter den Arm und wandte sich zum Gehen.
„So leicht kommen Sie mir nicht davon, Palazuelo.“
In
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