Das Rosenhaus
konnten in die
Bucht hinuntersehen.
Als Reefer das Wasser sah, legte er sofort einen Zahn zu, aber Lily
blieb fasziniert stehen und sagte nur: »Wow.«
Nathan lächelte wissend.
»Es gibt einfach Orte, bei deren Anblick man sich unweigerlich
besser fühlt, ganz gleich, wie deprimiert man sein mag. Das ist einer der
vielen Gründe, warum ich Cornwall so liebe. Selbst mit einer handfesten
Depression kann man hier nicht anders, als mit einem Lächeln auf den Lippen
herumzulaufen.«
Während er redete, hielt er sich die Kamera vors Gesicht und wollte
sie fotografieren. Er wollte das Staunen in ihrem Gesicht festhalten, bevor sie
den Blick wieder abwandte.
Er ließ sie und die Kamera bis auf Weiteres in Ruhe und marschierte
ihr voran den Rest des Weges bis zum Strand hinunter. Wie zwei ausgebreitete
Arme umfingen die Steilfelsen die Bucht.
Lily dachte über das nach, was er gesagt hatte.
Vielleicht sollte sie mal mit Liam hierherkommen.
Nicht, dass Liam Interesse daran hätte, von ihr irgendwohin
begleitet zu werden.
Aber vielleicht würde auch er hier endlich lächeln.
Es war so unbeschreiblich schön hier, dass sie vor Freude hätte
tanzen mögen. Wie wunderschön der weiche, weiße Sand im Kontrast zum klaren,
grünen Wasser und dem hohen, blauen Himmel stand. Sie musste an flüssiges
Metall denken, an das Glänzen eines Skarabäus-Panzers, an einen in der Sonne
glitzernden Edelstein. Die Farben waren so lebendig und stark, dass sie sich
von ihnen wie von Sirenengesang angezogen fühlte. Sie war völlig weggetreten
und kam erst wieder zu sich, als Nathan lachte, weil sie geradewegs ins Wasser
gelaufen war. Mitsamt ihren Schuhen stand sie bis zu den Waden im Meer.
Er fasste sie am Arm und zog sie zurück.
Seine Hand war warm.
Liams Hände waren immer so kalt. Und es war schon so lange her, seit
sie sie wirklich gespürt hatte.
Nathan fühlte die zarten, durch den Wind aufgerichteten Haare auf
ihrem Arm und ihre weiche, von der Sonne gereizte Haut.
Sie drehte sich zu ihm um, wollte ihm danken, und die Sonne
verwandelte das Grau ihrer Augen in magisches Violett.
Eine einsame Wolke verdunkelte kurzfristig die Sonne.
Als der Schatten wieder weg war, ließ er ihren Arm los.
»Wie geht es dir eigentlich heute?«
Sie bedachte ihn mit einem »Frag-nicht«-Blick, aber er hakte
trotzdem nach.
»Wie ging es Liam, als er von seinem Segeltörn wiederkam?«
»Da war ich schon im Bett.« Sie bückte sich, um einen Kiesel
aufzuheben. »Aber heute Morgen habe ich ihn gesehen. Er hat einen Riesenspaß
gehabt. Ohne mich … Heute wollte ich mitfahren zum Krankenhaus, aber als ich
das sagte …«
»Wollte er dich nicht dabeihaben?«
»Und besonders nett war er auch nicht zu mir. Das Übliche halt. Ich
versuche, es an mir abprallen zu lassen, aber heute Morgen, muss ich zu meiner
Schande gestehen, konnte ich mich nicht mehr beherrschen.«
»Inwiefern?«
»Ich habe ihm Kontra gegeben. Verbal. Aber er hat es nicht anders gewollt.
Er hat mich immer weiter provoziert. Mich aufgestachelt und von sich gestoßen.«
»Hast du ihm eigentlich mal gesagt, wie unglücklich du bist?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich glaube nicht, dass es nötig ist, das zu verbalisieren. Zwischen
uns herrscht eine Spannung wie in einer dieser Plasmakugeln: Ich muss nur einen
Finger nach Liam ausstrecken, und schon zuckt der Stromblitz.«
»Du musst mit ihm reden, Lily.«
»Ich weiß … aber es geht nicht … Früher konnte ich mit ihm über
alles reden. Aber jetzt … können wir irgendwie überhaupt nicht mehr miteinander
kommunizieren.«
»Manchmal sehen die Menschen die Dinge so verschieden, dass sie
überhaupt nicht mehr drüber reden können.« Er bückte sich, hob ein Stück
Treibholz auf und bewunderte es in seiner Hand.
Reefer sprang sofort aufgeregt vor ihm herum und wollte, dass Nathan
das Stöckchen warf.
»Siehst du«, lachte er, »für mich ist das hier ein kleines Wunder,
ein echtes Kunstwerk der Natur, von Meer und Zeit geformt. Für Reefer« – er
wedelte mit dem Holz vor der Hundenase herum – »ist es ein Spielzeug.«
Und damit schleuderte er es ins Wasser, damit der Hund es
wiederfinden konnte.
Es tat weh. Es tat so verdammt weh. Es tat viel mehr weh,
als er sich je vorgestellt hatte. Aber die Erleichterung war immens.
Liam hatte das Gefühl, die Last der gesamten Welt sei von seinen
Schultern genommen worden.
Und dass jeder Schritt, den er von jetzt an ging, leichter sein
würde.
»Ich bring dich jetzt
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