Das Rosenhaus
kamen Peter die Tränen. Verzweifelt wischte er sich mit dem
Handrücken über die Augen, dann holte er das Federbett aus seinem Zimmer und
deckte Lily behutsam zu.
Zehn Stunden später wachte Lily völlig orientierungslos
auf. Ihr war übel und ein wenig schwindelig. Es war noch dunkel, und sie
steckte immer noch in denselben Klamotten, die sie anhatte, als sie Peters
Anruf mit der Nachricht von Liams Unfall erreichte. Um das unangenehme
Schmutzgefühl loszuwerden, stellte sie sich unter die Dusche, wo sie sich den
Krankenhausgeruch vom Körper spülte. Dann zog sie sich um. Peter war, während
sie schlief, zum Rose Cottage gefahren und hatte eine Jacke, eine Jeans und ein
paar T-Shirts geholt. Der Pullover war allerdings nicht ihrer, sondern Liams.
Sie zögerte einen Moment, doch dann zog sie ihn an und schnupperte daran in der
Hoffnung, dass er nach Liam riechen würde … Er duftete aber einfach nur frisch
gewaschen.
Es war erst sechs Uhr, als sie nach unten ging, aber Peter war schon
in der Küche. Er saß am Tisch und arbeitete, doch als er Lily sah, legte er die
Pläne, über die er sich gebeugt hatte, schnell zusammen und schob sie beiseite,
unter eine Zeitung.
Schwach lächelnd sah er zu ihr auf. Er hatte so dunkle Ringe unter
den Augen, dass Lily sich fragte, ob er überhaupt geschlafen hatte.
Er hatte bereits Kaffee gekocht und den Frühstückstisch gedeckt.
Lilys Magen knurrte laut. Seit Tagen hatte sie nichts gegessen.
Dennoch schüttelte sie den Kopf, als Peter ihr etwas anbot.
»Ich kann nicht. Ich will wieder ins Krankenhaus.«
»Da bringe ich dich aber erst hin, wenn du etwas gegessen hast.«
»Dann ruf ich mir eben ein Taxi.«
»Hör auf, mit mir zu streiten, Lily, dafür sind wir beide zu müde.«
Also würgte sie etwas Toast hinunter und verbrannte sich die Zunge
am zu heißen Kaffee. All das fühlte sich so falsch an. Wie konnte es sein, dass
bei ihr noch alles ganz normal funktionierte, bei Liam aber nicht?
Es war, als hätte sie die Intensivstation erst vor wenigen
Minuten verlassen. Nichts hatte sich verändert. Der antiseptische Geruch, das
Brummen der Maschinen, das Piepen der Monitore, das sanfte Zischen des
Beatmungsgeräts.
Liam lag noch genauso da, wie sie ihn am Tag zuvor in diesem Zimmer
zurückgelassen hatte.
Der einzige Unterschied war die Tatsache, dass heute der Regen gegen
das verdunkelte Fenster trommelte.
Die für Liam zuständige Krankenschwester, Liz, war gerade dabei, den
Tropf zu wechseln. Sie war eine Frau mittleren Alters, die trotz ihres
feuerroten, im Nacken zusammengebundenen Haars und jeder Menge Sommersprossen
eine unglaubliche Gemütsruhe ausstrahlte, dabei aber äußerst effizient
arbeitete.
Sie blickte zu Lily empor, als diese den Raum betrat, und begrüßte
sie mit einem kurzen Lächeln.
»Gibt es was Neues?«, fragte Lily, obwohl sie die Antwort kannte.
Liz schüttelte den Kopf. Es lag so viel Mitgefühl in ihrem Blick,
dass Lily sofort die Tränen kamen. Sie schluckte sie hinunter wie bittere
Medizin.
Erst jetzt dachte sie an ihre Mutter. Sie ging hinaus zum
Münztelefon auf dem Flur und hinterließ ihr eine Nachricht auf dem
Anrufbeantworter. Liam habe einen Unfall gehabt, er habe zwar überlebt, befinde
sich aber in einem kritischen Zustand.
Liam hatte keine Familie, die sie anrufen konnte. Seine Eltern waren
schon lange tot, und Geschwister hatte er keine. Die einzige Verwandte, die
Lily kannte, war Großmutter Miriam, und die war vor zwei Jahren gestorben.
Lily vermisste Miriam. Mehr noch als ihre eigene Mutter, die sich
vor einigen Jahren mit ihrem deutlich jüngeren Geliebten im Ausland zur Ruhe
gesetzt hatte. Für jemanden, der eigentlich extrem gut organisiert war, meldete
sie sich nur in äußerst unregelmäßigen Abständen bei ihrer Tochter.
Alles wäre anders, wenn Miriam noch am Leben wäre und sie London nie
verlassen hätten!
Wenn. Würde. Wäre. Hätte. Lily ertrug das nicht. Am meisten quälte
sie, dass sie sich am Morgen des Unfalls so fürchterlich gestritten hatten.
Sie kniff die Augen zu, als könne sie damit die Erinnerung an ihren
Streit löschen, und als sie sie wieder öffnete, sah sie Liams geschundenes
Gesicht vor sich. Er sah so verletzlich aus, so hilflos und gebrochen, dass sie
eine riesige Woge der Trauer und des Schmerzes ergriff und sie am liebsten
weinend zusammengebrochen wäre. Sie zerfleischte sich vor Selbstvorwürfen und
konnte nicht fassen, wie sie so dumm hatte sein können, ihn verlassen
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