Das Rosenhaus
sinnierte sie, und Lily kombinierte ganz
richtig, dass sie damit die Spinnen meinte. »Den ganzen Winter haben sie ihre
Ruhe und machen es sich hübsch gemütlich, und dann komme ich wieder und
schmeiße sie auf die Straße, na ja, den Strand. Ich bin den ganzen Winter weg
gewesen«, erklärte sie.
»Wo sind Sie denn gewesen?«
»Ich habe meinen Sohn in Madagaskar besucht.«
»Madagaskar?« Lily assoziierte sofort Segelschiffe auf orange
leuchtendem Wasser und Gewürzmärkte. »Lebt er dort?«
»Der alte Nomade? Nein, der lebt nirgendwo beziehungsweise überall.
Er gondelt durch die Weltgeschichte, lässt sich von Wind, Lust und Laune
treiben. Und ich mit meinen arthritischen Knochen hatte nun das Glück, dass er
den hiesigen Winter an einem heißen Ort verbrachte, das hat mir jede Menge
Hotelkosten gespart. Ich bin nämlich eine Art Zugvogel, müssen Sie wissen, ich
komme mit dem englischen Winter nicht klar und fliege in wärmere Gefilde,
sobald die ersten Blätter fallen. Aber es ist auch jedes Mal wieder schön, zu
Hause zu sein. Wenn ich weg bin, vergesse ich, wie gerne ich eigentlich hier
bin. Angeblich soll man Zuneigung ja viel stärker empfinden, wenn man getrennt
ist, aber in meinem Fall stimmt das nicht. Jedes Jahr dasselbe – ich will am
liebsten nicht wiederkommen, aber wenn ich dann erst hier bin, frage ich mich,
wieso ich überhaupt weg gewesen bin.«
»Leben Sie denn schon lange hier?«
»In Merrien Cove? Ach, das müssen bald dreiundzwanzig Jahre sein,
glaube ich.« Sie runzelte die Stirn, als überraschte sie das selbst. »Schon
ganz schön lange, oder?«
»Dann muss es Ihnen hier ja gefallen.«
»Merrien Cove hat mehr zu bieten, als man glaubt.« Abi war Lilys
zweifelnder Unterton nicht entgangen. »Außerdem habe ich hier meine Wurzeln und
natürlich mein Geschäft. Ich weiß, dass es im Winter wie ausgestorben ist, aber
mir passt das gut in den Kram. So kann ich den Laden in der kalten Jahreszeit
ohne allzu große Verluste guten Gewissens zumachen und mich für ein paar Monate
verkrümeln.«
»Sie haben hier ja einen ganz phantastischen Arbeitsplatz.« Lily sah
sich noch einmal in dem ungewöhnlichen Raum um. »Es ist toll hier.«
»Ja, bis auf die etwas dürftige Infrastruktur, sozusagen … Das ist
ziemlich lästig, wenn man gerne eine Tasse Kaffee hätte oder dringend mal muss
… Was auf mich gerade beides zutrifft. Eine Toilette gibt’s hier nicht, und
unser Wasserkocher hat im Herbst das Zeitliche gesegnet. Ich hatte noch keine
Gelegenheit, einen neuen zu besorgen. Normalerweise habe ich ja eine
Aushilfskraft, da kann ich auch mal schnell verschwinden, aber die Gute ist
wohl etwas spät dran heute. Eher suboptimal am ersten Tag, aber ansonsten kann
ich mich über sie nicht beklagen.«
»Wie halten Sie das denn bloß ohne Toilette aus?«, wollte Lily
wissen.
»Wir wechseln uns ab«, grinste Abi. »Bob hat mich von Anfang an
gewarnt, dass der Schuppen hier nicht hundert Prozent geeignet wäre, aber
finden Sie nicht auch, dass ein altes Windenhaus viel interessanter ist als
irgendein olles Ladenlokal, selbst wenn das Ladenlokal alles hat, was das Leben
angenehmer macht? Wenn es ganz dringend ist, gehe ich schnell rüber zu Betty.
Die hat in der Regel Mitleid mit mir und lässt mich ihre Toilette benutzen.«
»Betty?« Abi zeigte zum reetgedeckten Cottage gegenüber.
»Betty Proctor. Entzückende alte Dame, lebt schon ihr ganzes Leben
hier. Und macht unter Garantie jedes Jahr Winterschlaf, denn im Winter bekommt
man sie nie zu Gesicht. Ihr Vater war Fischer. Und ihr kleiner Bruder ist es
immer noch.«
»Proctor?«
»Genau. Kennen Sie ihn?«
»Kennen wäre zu viel gesagt. Wir grüßen uns.« Lily musste lachen,
was verwunderte Blicke von Abi auslöste. »Ich finde, er sieht selbst schon so
alt aus, da kann ich mir gar nicht recht vorstellen, dass er der kleine Bruder von jemandem sein soll«, erklärte sie.
»Ich weiß, was Sie meinen. Ich glaube, Betty ist ungefähr
hundertdreiundvierzig Jahre alt. Und einfach ein Schatz. Genauso fit wie Sie
und ich. Und einen Humor hat die Dame! Gehen Sie doch einfach mal rüber, und
stellen Sie sich vor … Sie kommt selbst nicht mehr viel aus dem Haus, da freut
sie sich ganz besonders über jeden Besuch … Selbst wenn der nur kurz bei ihr
aufs Klo huscht …« Abi verzog das Gesicht und trat nervös von einem Fuß auf den
anderen. Dann zeigte sie auf eine braune Schüssel in der Ecke. »Zur Not kann
ich ja da reinpieseln. Das Ding steht
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