Das Rosenhaus
ersten Stock.
Vorsichtig erklomm sie die Metallstufen. Der obere Raum war weiß
gestrichen, hatte eine Kuppeldecke und wurde vom Tageslicht erleuchtet, das
durch mehrere niedrige Bogenfenster fiel. Hier oben war die Galerie
untergebracht. Drucke und Gemälde, Fotografien und Postkarten hingen an den
Wänden, fächerten sich in Grafikständern auf und lagen auf dem großen, dunklen
Eichentisch in der Mitte des Raumes.
Auch hier war niemand. Lily war ganz in ihrem Element. Sie
betrachtete alle Ausstellungsstücke an den Wänden und in den Ständern. Zwei Mal
ging sie alles durch, dann kehrte sie zu dem zurück, was ihr am besten gefallen
hatte, einem Arrangement aus acht gerahmten Drucken.
Es dauerte einen Moment, bis sie sich darüber im Klaren war, ob es
sich dabei um Gemälde oder Fotografien handelte, weil alles ein klein wenig
unscharf war. Sie kam zu dem Schluss, dass es sich um Aufnahmen handelte,
wunderschön, von Land und Meer.
»Phantastisch«, murmelte Lily.
Die Galerie, in der sie in London gearbeitet hatte, stand in keinem
Vergleich zu dieser. Ein vor Exklusivität strotzendes Etablissement mitten in
Chelsea, wo ein einziges Gemälde schon mal mehr kosten konnte als eine große
Penthousewohnung in den Docklands.
Ihr hatte es dort trotzdem gefallen.
Sie empfand ihren Arbeitsplatz als einen Ort der Ehrfurcht. Eine
Kirche der Künste. Sie hatte die Ehre gehabt, von Cézannes, Chagalls, Matisses,
Lichtensteins und einmal sogar einem Picasso umgeben zu sein.
Die bunte Mischung aus Kunst und Kunsthandwerk, die sie hier antraf,
war so anders – und sprach sie fast noch mehr an. Jedes Ausstellungsstück war
von ergebenen Künstlerhänden mit der gleichen Sorgfalt und Kreativität geschaffen
worden wie jener Picasso, den sie so sehr bewundert hatte.
Wie kam es, dass das eine so viel mehr wert war als das andere?
Wie kam es, dass ein Gemälde Millionen wert war, während ein
anderes, das genauso schön anzusehen war und ihm in Sachen Kunstfertigkeit,
Integrität und Intensität in nichts nachstand, in dieser kleinen Galerie
herumhing und für nur neunzig Pfund den Besitzer wechseln sollte?
Dann hörte sie jemanden die Treppe heraufkommen. Sie drehte sich um
und erblickte einen rotbraunen Lockenschopf, gefolgt von einem freundlichen
Gesicht mit hellgrauen Augen und langen, dunklen Wimpern.
Sie strahlte Lily an. Kein oberflächliches Lächeln, nein, diese
augenscheinlich etwas ältere Frau strahlte von innen heraus.
»Halli-hallo … Dachte ich es mir doch, dass ich hier oben jemanden
hören konnte. Sie sind meine erste Kundin dieses Jahr! Herzlich willkommen! …
Tut mir leid, ich war unten im Lagerraum und bin die alten Bestände
durchgegangen …« Sie reichte ihr die Hand. »Ich bin Abi Hunter.«
Sie hatte einen Mokkateint, und ihre kleine Nase zierten einige
Sommersprossen.
»Wohnen Sie im Crooked Compass?«
»Lily Bonner«, stellte Lily sich vor, ergriff ihre Hand und
schüttelte den Kopf. »Nein, ich lebe hier.«
»Sie leben hier?«
Ihr Erstaunen bestätigte Lily in der Annahme, dass es sich bei
Merrien Cove in Wirklichkeit um eine Geisterstadt handelte, in der nur ein paar
Fischer und Möwen lebten.
Lily nickte.
»Etwas außerhalb.«
»Dann sind Sie aber neu hier.«
»Wir sind Anfang des Jahres hergezogen.«
»Dachte ich es mir doch. Ich kenne nämlich jeden hier, aber gut, das
ist ja auch kein Kunststück. Sind ja nur ein paar Handvoll. Na, also dann
herzlich willkommen in Merrien Cove! In welchem Haus leben Sie denn?«
»In dem alten oben auf der Landzunge.« Lily verzog das Gesicht.
»Rose Cottage.«
»Ach, Sie sind das?« Das Gesicht der Frau erhellte sich. »Na, dann
muss ich ja sogar sagen: Herzlich willkommen, Frau Nachbarin!«
»Leben Sie im Driftwood Cottage?«
»Allerdings. Was für ein Zufall, ich wollte nämlich heute Abend mit
einem Apfelkuchen bei Ihnen vorbeischauen. Keine Sorge. Den hat Bob gebacken,
nicht ich«, erklärte sie, als wüsste Lily, wer Bob sei. »Das heißt, es handelt
sich um einen köstlichen, essbaren Kuchen und nicht um etwas, was man besser
als Ersatzreifen im Kofferraum verstaut.«
Beide Frauen lachten herzlich.
»Ich wäre gerne schon früher vorbeigekommen, aber ich bin erst seit
zwei Tagen wieder hier, und gestern war ich den ganzen Tag damit beschäftigt,
hier die Spinnweben zu entfernen. Als ich damit fertig war, war ich alles
andere als salonfähig. Sie hätten mich mal sehen sollen, die Haare voller
Spinnweben. Die armen Viecher«,
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