Das Rosenhaus
Restaurants, Spaziergänge, Natur, alle Geschäfte auf. Aber in der
ersten Jahreshälfte … überhaupt kein Vergleich. Man könnte meinen, man sei in
einer anderen Welt.«
Sie hakte sich bei Lily unter, und Lily staunte, wie sehr sie diese
freundschaftliche Geste rührte.
»Es tut mir so leid, dass ich erst jetzt mit dem Geld für das Bild
gekommen bin. Sie haben sicher schon gedacht, ich hätte es geklaut.«
»Quatsch. Ich hatte die Sache schon völlig vergessen. Bis Sie dann
vorhin wieder im Laden standen. Und ich bin mir sicher, dass Sie Wichtigeres zu
tun hatten. Wie geht es Ihrem Mann?«
»Ach, so … lala.«
Abi wartete auf mehr, aber da Lily schwieg, redete sie selbst
weiter. »Ich wollte eigentlich noch mal vorbeikommen, dachte aber, dass Sie
jetzt, wo Ihr Mann wieder zu Hause ist, vielleicht nicht so gerne unangemeldeten
Besuch haben …«
»Sie hätten gerne vorbeikommen können. Ich freue mich über Besuch.«
»Na gut, jetzt weiß ich ja, dass ich willkommen bin.«
»Jederzeit.«
Plaudernd schlenderten sie die Küstenstraße entlang. Auf halber
Strecke zwischen dem Alten Windenhaus und dem Inn bog Abi unvermittelt rechts
ab und führte Lily durch einen niedrigen Torbogen, der ihr noch nie aufgefallen
war. Eine schmale Gasse führte zwischen den Cottages zu einer der höher
gelegenen Straßen, die als Sackgasse ganz hinten im Ort endete.
Etwa hundert Meter weiter lag auf der linken Seite ein dreistöckiges
Steincottage mit Blick über die Dächer von Merrien Cove und einem gemalten
Schild mit der Aufschrift »The Port Hole«.
»Ich wusste nicht einmal, dass es das hier gibt.« Bewundernd
betrachtete Lily die gelben Steine und die Panoramafenster.
»Im Sommer steht ein Schild unten an der Straße, aber im Winter ist
es wie alles andere in Merrien Cove auch geschlossen.«
Abi öffnete die niedrige Eingangstür und duckte sich unter dem Sturz
hindurch. Eine altmodische Messingglocke mit hellem, klarem Klang schlug an.
Als Erstes nahm Lily den Geruch in dem Haus wahr. Es war ein
schwerer, süßer Duft nach Zimt und Vanille, der von Kerzen und Backwaren
herrührte.
In allen drei Stockwerken waren die Fußböden gefliest und die Wände
in goldenem Ocker gehalten. Abi nahm Lily mit bis ganz nach oben, wo sie sich
einen Tisch am Fenster mit Blick über die ganze Bucht aussuchte. Lily setzte
sich und konnte von ihrem Platz aus den Strand und die dahinter liegende
Steilküste sehen, bis zur nächsten Landzunge. Auf den schaumgekrönten Wellen
tanzten sonnenhungrige Surfer.
»Wunderschön.« Sie lächelte Abi an, und die ältere Frau erwiderte
ihr Lächeln sehr herzlich.
»Warten Sie, bis Sie das Essen hier gekostet haben.« Sie begrüßte
die hochgewachsene, blonde junge Frau, die lächelnd und mit der Karte in der
Hand auf sie zukam, freundlich. »Hallo, mein Engel, wie geht’s dir heute? Lily,
das ist Lorna, die Geschäftsführerin, Lorna, das ist Lily. Sie und ihr Mann
haben Rose Cottage gekauft.«
»Sie Glückliche!« Strahlend reichte Lorna Lily die Karte. »Das ist
mein Traumhaus! Der beste Blick der Welt!«
»Und die beste Nachbarin der Welt«, scherzte Abi.
An den Wänden hingen alte Fotos von Merrien Cove. Auf dem einen war
eine Person, die Lily irgendwie bekannt vorkam, aber es dauerte einige Minuten,
bis sie darauf kam, dass der junge Mann, der da wie eine kräftige, stolze Eiche
neben einem Fischerboot im Hafen stand, Proctor in jungen Jahren war.
»Oh, mein Gott, das ist ja …«
»Proctor.« Abi amüsierte sich über Lilys Staunen. »War mal ein ganz
schönes Prachtexemplar, was? Hach, wenn er doch nur achthundertzweiunddreißig
Jahre jünger wäre …«
Statt Blumen steckten in den kleinen Vasen aus gefrostetem Glas auf
dem Tisch verschiedene Gräser und Zweige aus der näheren Umgebung. Manche
blühten zartrosa.
Die Möbel waren alle aus Holz, aus dunkelbrauner, unbehandelter
Eiche. Die Tische waren äußerst solide, und die Sitze der Stühle hatte man mit
goldgelbem, terrakottafarbenem und rostrotem Stoff bezogen.
Im Hintergrund lief leise Jazz. Lily dachte sofort an Liam. Wie oft
hatten sie in London Jazz zum Abendessen im Garten aufgelegt … Lily wurde ganz
melancholisch.
»Alles in Ordnung?« Abi kniff die Augen zusammen, als sie das
sehnsuchtsvolle Gesicht der deutlich jüngeren Lily sah.
Lily blinzelte und erzwang ein Lächeln.
»Ja, danke. Mir ging nur gerade durch den Kopf, wie wunderschön es
hier ist.«
»Danke.«
»Danke? Wollen Sie damit etwa sagen, dass
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