Das Rosie-Projekt
identifiziert hätten. Einem Schönheitschirurgen sei doch sicher sehr an seinem Äußeren gelegen. Leider wäre ein nur abgeschnittenes Haar ungeeignet – es würde ausgerissen werden müssen, da wir eine Haarwurzel benötigten. Rosie steckte eine Pinzette ein. Ausnahmsweise einmal hoffte ich, fünfzehn Minuten in einem verqualmten Zimmer verbringen zu müssen – ein Zigarettenstummel könnte unser Problem auf einen Schlag lösen. Wir würden eben wachsam auf alle sich bietenden Gelegenheiten achten müssen.
Dr. Freybergs Praxis befand sich in einem älteren Gebäude an der Upper West Side. Rosie drückte den Summer, und ein Sicherheitsmann brachte uns in einen Wartebereich, dessen Wände voll gerahmter Zertifikate und Briefen von Patienten hingen, die Dr. Freybergs Arbeit priesen.
Dr. Freybergs Sekretärin, eine sehr dünne Frau ( BMI etwa sechzehn) von circa fünfundfünfzig Jahren mit unproportional dicken Lippen führte uns in sein Sprechzimmer. Mehr Zertifikate! Freyberg selbst wies einen großen Makel auf: Er war vollkommen kahl. Der Haarentfernungsplan wäre nicht umsetzbar. Zudem gab es keinen Hinweis darauf, dass er rauchte.
Rosies Interviewführung war beeindruckend. Freyberg beschrieb einige Behandlungen, die klinisch kaum gerechtfertigt schienen, und betonte die Bedeutung von Selbstwertgefühl. Es war gut, dass mir die stumme Rolle zufiel, da ich sehr versucht war zu protestieren. Außerdem rang ich um Konzentration. Mein Gehirn war immer noch dabei, das Händchenhalten zu verarbeiten.
»Entschuldigung«, sagte Rosie, »könnte ich wohl etwas zu trinken haben?«
Natürlich! Ein Abstrich von der Kaffeetasse!
»Sicher«, sagte Freyberg. »Tee, Kaffee?«
»Kaffee wäre nett«, erwiderte Rosie. »Schwarz, bitte. Trinken Sie auch einen?«
»Nein, danke. Lassen Sie uns weitermachen.« Er drückte einen Knopf auf seiner Telefonanlage. »Rachel? Bitte einen Kaffee, schwarz.«
»Sie sollten auch einen Kaffee trinken«, sagte ich zu ihm.
»Ich trinke niemals Kaffee.«
»Sofern keine genetische Intoleranz gegenüber Kaffee besteht, sind keine schädlichen Wirkungen bekannt. Im Gegenteil …«
»Für welche Zeitschrift arbeiten Sie noch mal?«
Die Frage war geradeheraus gestellt und absolut vorhersehbar gewesen. Rosie und ich hatten uns im Vorfeld auf den fiktiven Namen einer Universitätszeitschrift geeinigt, und Rosie hatte ihn bei der Vorstellung bereits erwähnt.
Aber mein Gehirn funktionierte nicht richtig. Rosie und ich antworteten gleichzeitig. Rosie sagte:
Zeit im Wandel
Ich sagte:
Wandel der Zeit
.
Es war eine minimale Diskrepanz, die jeder vernünftige Mensch als einfachen, harmlosen Fehler abgetan hätte, was es ja auch war. Doch Freyberg sah uns misstrauisch an und kritzelte etwas auf ein Stück Papier. Als Rachel den Kaffee brachte, gab er ihr den Zettel. Ich diagnostizierte Paranoia und fing an, Fluchtpläne zu entwerfen.
»Ich müsste mal zur Toilette«, verkündete ich. Von dort aus wollte ich Freyberg anrufen, so dass Rosie entkommen könnte, während er den Anruf entgegennahm.
Ich machte Anstalten, zur Tür zu gehen, doch Freyberg versperrte mir den Weg.
»Nehmen Sie mein privates Badezimmer«, sagte er. »Ich bestehe darauf.«
Er führte mich durch den hinteren Teil seiner Behandlungsräume, an Rachel vorbei, zu einer Tür mit der Aufschrift »Privat« und ließ mich eintreten. Es gab keine Möglichkeit, die Räume zu verlassen, ohne denselben Weg zurückzugehen. Ich nahm mein Handy, wählte 411 – die Telefonauskunft – und ließ mich mit Rachel verbinden. Ich hörte Rachels Telefon klingeln. Als sie abhob, sprach ich mit leiser Stimme.
»Ich muss dringend Dr. Freyberg sprechen«, raunte ich, »es ist ein Notfall.« Ich erklärte, meine Frau sei Patientin von Dr. Freyberg und dass ihre Lippen explodiert seien. Dann legte ich auf und schrieb Rosie eine SMS : »Sofort weg!«
Das Badezimmer hätte Evas Dienste bedurft. Ich schaffte es, das Fenster zu öffnen, das offenbar schon lange Zeit nicht mehr benutzt worden war. Die Praxis lag im vierten Stock, aber wie es aussah, gab es genug Möglichkeiten zum Festhalten in der Wand. Ich kletterte durchs Fenster, begann langsam und konzentriert mit dem Abstieg und hoffte, dass Rosie erfolgreich hatte fliehen können. Es war lange Zeit her, dass ich geklettert war, und der Abstieg nicht so leicht, wie er zunächst ausgesehen hatte. Die Wand war rutschig vom Regen, und meine Laufschuhe waren für diese Aufgabe nicht optimal
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