Das rote Band
öffnete die Tür. In der Waffenhalle war es düster, und sie brauchte einen Moment, bis sie Ian erkannte, der mit dem Rücken zu ihr vor seinem Schreibtisch stand.
„Hallo, Ian, ich muss mich unterstellen und den Regen abwarten“, rief sie, doch er reagierte nicht. Verwundert über sein unhöfliches Verhalten durchquerte sie die Halle und trat neben ihn. „Warum sagst du …?“ Entsetzt blickte sie auf seinen rechten Unterarm – er war voll Blut. Ian drückte die Wunde mit einem Leinentuch ab, doch das Stück Stoff war bereits blutgetränkt. Schnell holte Eloïse aus der Truhe einen Stapel Bandagen. „Lass kurz los“, forderte sie ihn auf und legte eine gefaltete Binde längs auf die Verletzung. Mit den anderen Tüchern umwickelte sie die Auflage und verknotete zum Schluss die beiden Enden. „Setz dich, Ian, du siehst blass aus“, sagte sie und schob ihm den Stuhl hin. Er folgte ihrer Aufforderung ohne Widerspruch, und sie goss Wein in seinen Becher und stellte ihn vor ihn. „Wie ist das passiert?“
Ian trank einen Schluck, bevor er antwortete: „Ich wollte Schwerter für heute Nachmittag bereitlegen. Als ich in die Kiste griff, habe ich übersehen, dass ein Säbel dazwischen lag.“ Er grinste. „Es gab einen schönen tiefen Schnitt.“
„Ich glaube, du musst ihn nähen lassen“, erklärte sie besorgt. „Ich begleite dich zu Joanna in die Apotheke.“
Entschieden schüttelte er den Kopf. „Nähen kommt nicht infrage. Da müsste ich den Arm mehrere Tage schonen.“
„Aber Joanna wird darauf bestehen“, widersprach Eloïse.
„Joanna ist nicht da. Sie besucht ihre Tante in Skye Forrest und kommt erst übermorgen wieder.“
„Dann muss jemand anderes die Wunde richtig versorgen“, erwiderte sie. „Sie ist zu groß, du kannst auf keinen Fall damit kämpfen!“
Ian lachte auf. „Eloïse, ich habe gekämpft und gearbeitet mit Verletzungen, die weitaus schlimmer waren als dieser Kratzer an meinem Arm.“
„Kratzer?“, wiederholte sie fassungslos.
Beschwörend sah er sie an. „Eloïse, versprich mir, niemandem von dieser Verletzung zu erzählen! Jetzt, wo Samuel da ist, kann ich mir keine Schwäche erlauben. Das verstehst du doch, oder?“
Eloïse biss sich auf die Lippen. Es wäre ihr wohler, Ian ließe den Schnitt behandeln. Andererseits konnte sie seine Bedenken nur zu gut nachvollziehen. „Also gut“, antwortete sie zögernd. „Ich werde schweigen.“
Ein paar Tage später öffnete sich während des Fechttrainings am Nachmittag die Tür der Waffenhalle, und der Earl kam herein. Lächelnd ging er auf Lord Redcliff zu. „Ich wollte nachsehen, wie dir der Unterricht gefällt, Samuel.“
Samuel lief dem Burgherrn entgegen. „Gut. Ich denke, ich bin eine große Hilfe für Ian.“
„Wenn er denn da ist“, flüsterte Olric Harper und Eloïse zu, mit denen er gerade übte. „Von der ersten Stunde abgesehen, ist er doch jedes Mal unpünktlich gewesen.“
„Na ja“, erwiderte Harper leise, „und wenn er da ist, stolziert er auch nur zwischen uns herum und korrigiert unbedeutende Kleinigkeiten.“
Eloïse lachte, doch ihr Augenmerk lag auf Ian, der langsam auf den Earl und Samuel zuschritt. Sein Zustand gefiel ihr nicht. Er sah elend aus, war bleich und hatte glasige Augen. Als er an ihr vorbeikam, ging sie rasch zu ihm. „Ist alles in Ordnung mit dir?“, raunte sie ihm ins Ohr.
„Mir fehlt nichts“, erwiderte Ian knapp. „Trainiere weiter, Eloïse.“
Sie trat zurück, dachte aber gar nicht daran, den Übungskampf wieder aufzunehmen, sondern folgte Ian zum Burgherrn und Lord Redcliff. Auch die anderen Studenten kamen näher heran und lauschten dem Gespräch zwischen den drei Männern.
„Samuel sagte mir gerade“, sprach der Earl Ian an, „du würdest seine Vorschläge zur Verbesserung des Unterrichts nicht annehmen.“
„Es ist mein Unterricht, Jake“, entgegnete Ian.
„Samuel hat auf unzähligen Schlachtfeldern gekämpft und jahrelang Soldaten ausgebildet“, erklärte der Burgherr. „Das ist etwas anderes, als mit Stecken gegen Tagelöhner anzutreten oder Bauernlümmel zu trainieren, Ian.“
Ians Miene verfinsterte sich. „Du zweifelst an meinen Fähigkeiten, Jake?“
„Nein“, erwiderte der Burgherr. „Ich weiß aber, dass Samuel dir sowohl im Kämpfen als auch im Unterrichten weit überlegen ist. Das solltest du ehrlich anerkennen und seine Unterstützung dankbar annehmen.“
In der Halle wurde es still. Diese Worte des Earls waren ein offener
Weitere Kostenlose Bücher