Das rote Band
neben ihn.
„Ja“, antwortete Ian gepresst. Ihm war schwindelig, aber vor Jake wollte er sich keine Blöße geben. Und die Benommenheit würde sicher vergehen, sobald er lief. Entschlossen stellte er sich auf und ging los. Doch schon nach wenigen Schritten schoben sich graue Schleier vor seine Augen, und das Blut rauschte in seinen Ohren. Das Gleichgewicht zu halten, war plötzlich unmöglich. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, und er geriet ins Schwanken.
„Ruhig weiter atmen, Ian, und marsch zurück ins Bett!“ Jake hatte ihn am Oberarm gepackt und hielt ihn fest.
Mehr auf Jake gestützt, als laufend, erreichte Ian wieder sein Bett. Erschöpft ließ er sich in die Kissen fallen, und Jake hob seine Beine auf die Matratze. „Es ist wohl wirklich ein bisschen zu früh“, gab Ian zu.
„Allerdings“, bestätigte Jake. „Ich schätze, es wird einige Zeit dauern, bis du deine alte Form wieder erreicht hast.“ Er sah ihn nachdenklich an. „Wir verschieben unser Schachspiel, ruh dich jetzt aus. Und am besten kein Wort zu meiner Schwester über diesen Ausflug.“
Ian lächelte matt. „Ich bin doch nicht wahnsinnig.“ Er sah Jake nach, wie er den Raum verließ. Der Besuch hatte ihn gefreut. Trotzdem wurde Ian das dumpfe Gefühl nicht los, dass Jake nicht wegen einer Partie Schach gekommen war.
Jake schloss die Tür des Krankenzimmers hinter sich und ging den Treppenturm hinunter zur Bibliothek, wo Samuel bereits auf ihn wartete. Er bedeutete seinem Freund, mit ihm gemeinsam in den Sesseln am Kamin Platz zu nehmen. Kaum saßen sie, sah Jake ihn auffordernd an. „Warum sagst du mir nicht endlich die Wahrheit, Samuel? Wir sind seit Jahren befreundet, du kannst mir vertrauen.“
Samuel starrte eine Weile ins Kaminfeuer, bevor er antwortete. „Du kennst mich einfach zu gut, Jake“, sagte er schließlich. „Ich habe mich mit meiner Familie überworfen.“ Er lächelte verlegen. „Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wo ich hin soll. Ich bin vollkommen mittellos.“
Jake nickte. „So etwas habe ich vermutet. Du kannst so lange in Greystone bleiben, wie du möchtest.“
Samuel schüttelte den Kopf. „Nein, ich kann nicht einfach untätig in Greystone sitzen und deine Gastfreundschaft ausnutzen.“
„Untätig wirst du auch nicht sein“, erklärte Jake mit einem Lächeln. „Wenn ich ehrlich bin, kommst du mir wie gerufen, Sam. Ich habe die perfekte Stelle für dich. Ich hatte sie dir schon letztes Jahr angeboten, doch leider hast du damals auf meine Briefe nicht geantwortet …“
„Nanu, was hast du denn vor?“ Joanna betrat das Krankenzimmer und sah zu Ian, der auf dem Bett saß und sich sein Hemd anzog. „Abendgarderobe?“
„Cedric hat gesagt, heute Abend findet ein Konzert der Studentinnen statt. Ich möchte hingehen.“ Bevor sie etwas erwidern konnte, sprach er schnell weiter: „Joanna, es ist fünf Tage her, seit das Fieber aufgehört hat. Ich muss hier raus, sonst werde ich verrückt.“
„Ich hatte gar nicht vor, dir zu widersprechen“, erwiderte sie. „Der Festsaal ist nicht weit weg, wir können jederzeit ins Krankenzimmer zurückkehren. Zwar habe ich Jake eben gesagt, dass ich nicht anwesend sein würde, aber das ist egal.“ Sie trat zu ihm und schloss die letzten zwei Knöpfe seines Hemdes. „Du bist schmal geworden, Ian“, stellte sie mit einem Seufzen fest. „So abgemagert hatte ich dich eigentlich nie wieder sehen wollen.“
Ian hob mit dem Finger ihr Kinn an, sodass sie ihm in die Augen blicken musste. „Ab morgen schlafe ich wieder in meinem eigenen Zimmer, gehe zum Essen in die große Halle und leite das Fechttraining – notfalls sitzend“, erklärte er entschieden. „Und heute Nacht werde ich dich davon überzeugen, dass ich nicht ganz so entkräftet bin, wie du denkst.“
Joanna lächelte. „Dein Plan klingt gut. Aber jetzt zieh dich an, sonst verpassen wir den Anfang des Konzertes.“
Die erste Darbietung hatte bereits begonnen, als sie unbemerkt den Festsaal betraten. Leise ließen sich Ian und Joanna auf den hintersten Stühlen nieder und lauschten der Musik.
Nachdem Maralda und Zelda ihr Stück für Laute und Flöte beendet hatten, setzte begeisterter Applaus ein. Schließlich trat Jake nach vorne, begrüßte die Zuhörer und dankte den beiden jungen Frauen für ihren Vortrag. „Bevor wir nun das Konzert fortsetzen und Rose an der Harfe erleben dürfen, muss ich Euch noch eine Veränderung mitteilen, die die Akademie betrifft.“
Neugieriges
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