Das rote Band
fällen, die weiser sind als ich“, erwiderte Ian hart. „Das Thema ist beendet, genau wie dieser Tag. Alle gehen in ihre Zimmer, nur die Verletzten schlafen in der Halle.“
Die jungen Männer und Frauen verließen den Saal, lediglich einige Mägde blieben zur Versorgung der Verwundeten zurück. Ian trat einen Schritt auf Joanna zu. „Wie ist Jakes Zustand einzuschätzen?“, fragte er.
„Die Wunde ist tief, aber mein Bruder ist zäh und hat schon weitaus schlimmere Verletzungen überstanden.“
Ian nickte. Jake würde überleben, das war alles, was er hatte hören wollen. Er atmete tief durch, denn, was er nun zu sagen hatte, würde ihr nicht gefallen. „Joanna, ich habe Sir Perrin versprochen, mich um einige Angelegenheiten zu kümmern, weil Galad dazu im Moment nicht in der Verfassung ist. Er und Jakes Kammerdiener Robert erwarten mich gleich wieder in der Bibliothek. Und danach …“
„Ich weiß“, sie senkte den Kopf, „danach verlassen wir beide Greystone.“
Der Morgen graute bereits, als Ian die Bibliothek nach der Besprechung mit dem Oberbefehlshaber und Robert verließ. Er stieg den Treppenturm hinauf, um zu seinem Zimmer zu gehen und seine wenigen Habseligkeiten zusammenzupacken. In Greystone wurde er nicht mehr gebraucht. Alle Entscheidungen für die nächsten Tage waren getroffen und vorbereitet. Bald würde Galad wieder zur Vernunft kommen und die Leitung übernehmen, bis Jake genesen war. Ian war bewusst, wie schwer es für Joanna sein musste, die Burg und ihren Bruder in dieser Situation zu verlassen. Aber für ihn gab es keine andere Lösung: Jake hatte ihm in den letzten Wochen unmissverständlich deutlich gemacht, dass seine Anwesenheit nicht mehr erwünscht war – sie war es vermutlich niemals gewesen. Trotzdem fiel auch ihm die Entscheidung schwer, von der Akademie fortzugehen. Er war gerne Fechtmeister gewesen, hatte sich in der Burg wohlgefühlt und schließlich auch mit seinen Studenten gut verstanden.
Auf Höhe des Krankenzimmers blieb Ian stehen, um sich von Galad zu verabschieden. Er klopfte leise an und öffnete die Tür. Galad saß schlafend auf dem Stuhl, seine Finger umklammerten weiterhin Jakes Hand. Lächelnd betrat Ian den Raum. Würde Joanna hier liegen, er würde sich nicht anders verhalten. Er ging näher an das Bett heran. Jakes Gesichtszüge waren entspannt, und er atmete ruhig. Gedankenverloren betrachtete er den Earl. Hätte Jake ihn nicht zu Boden gerissen, Zacharias Messer hätte sich in seine Brust gebohrt. Möglicherweise hatte der Earl ihm mit dieser Tat sogar das Leben gerettet, aber es änderte nichts an den Umständen. Jake hatte es für Joanna getan, nicht für ihn. Trotzdem verspürte Ian eine tiefe Dankbarkeit, und er legte seine Hand auf den Unterarm des Earls.
„Ich wusste, du würdest nicht gehen“, murmelte Jake plötzlich und öffnete halb die Augen. Bevor Ian widersprechen konnte, sprach Jake mit rauer Stimme weiter: „Bleib und kümmere dich um meine Schwester, um Galad und um Greystone.“ Und dann fügte Jake ein Wort an, von dem Ian absolut sicher war, dass der Earl es ihm gegenüber noch nie benutzt hatte: „Bitte.“
„So, und jetzt gebt dem Mann endlich ein frisches Hemd!“, rief Harper, als Ian aus dem Krankenzimmer herunter in die große Halle kam. „Diesen heldenhaft blutverschmierten Anblick erträgt keiner mehr!“
Obwohl es früh am Morgen war, waren bereits alle Studentinnen und Studenten dort versammelt und schienen auf ihn gewartet zu haben.
„Ignorier ihn, Ian, da spricht nur die Eifersucht, weil er nicht mit in den Kampf durfte“, erklärte Eloïse lachend.
Ian rollte mit den Augen. „Schön, dass euch die Ereignisse von gestern nicht die Laune verdorben haben.“ Er sah die Studenten an. „Ich bitte euch alle, sofort einen Brief an eure Familien zu verfassen, in dem ihr die Geschehnisse von gestern schildert. Ich selbst werde dann noch ein paar persönliche Zeilen hinzufügen.“
Die jungen Männer und Frauen gingen davon, um seine Anweisungen auszuführen, und Ian bemerkte Joanna, die in einen Umhang gehüllt und mit einer gepackten Satteltasche in einer Ecke des Saales auf ihn wartete. Sie hatte seine Worte an die Studenten gehört und sah ihn nun verwundert an.
Ian schüttelte leicht den Kopf und ging auf sie zu. „Wir bleiben“, erklärte er ihr, „vorerst.“ Er wollte Joanna keine falschen Hoffnungen machen.
Erleichterung spiegelte sich auf ihrem Gesicht, doch da sie nicht alleine waren,
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