Das rote Band
vermutet hatte. Nun stand er auf dem Gang im Obergeschoss des Südflügels und sah durch die geöffnete Tür ins Krankenzimmer. Jake lag mit geschlossenen Augen im Bett. Sein Hemd hatte man ihm ausgezogen, und sein Oberkörper war mit einem großen Verband umwickelt. Schweißperlen glänzten auf der Stirn des Earls, und sein Gesicht war unnatürlich bleich. Ian biss sich auf die Lippen. Er musste dringend in Erfahrung bringen, wie es um Jake stand, doch Joanna befand sich nicht mehr im Krankenzimmer, nur Galad und Sir Perrin waren anwesend. Galad saß neben Jakes Bett auf einem Stuhl und streichelte die Hand des Earls. Er war blass und starrte Jake mit schmerzerfülltem Gesicht an. Ian runzelte die Stirn. So unvorsichtig hatte er Galad noch nie gesehen.
„Lord Lionsbridge!“ Sir Perrin, der neben Galads Stuhl stand, räusperte sich. „Wie ich bereits sagte, ich muss dringend mit Euch reden. Wie sollen wir nach den Ereignissen dieses Tages weiter verfahren? Entscheidungen müssen getroffen werden, die sich nicht länger hinauszögern lassen!“ Der Oberbefehlshaber wartete, doch Galad reagierte nicht. „Auch Lady Joanna bittet inständig darum, dass Ihr zu ihr in die große Halle herunterkommt“, fügte er nachdrücklich hinzu.
„Nein“, erwiderte Galad abwesend, „ich lasse Jake nicht alleine.“
Sir Perrin sah ihn verwirrt an. „Aber, Lord Lionsbridge, wer soll dann die Entscheidungen treffen?“
„ Ich komme mit euch.“ Ian trat ins Zimmer, nahm den Oberbefehlshaber am Arm und führte ihn nach draußen auf den Gang. „Erklärt mir, was getan werden muss“, forderte er Sir Perrin auf, während er die Tür des Krankenzimmers leise hinter sich schloss und sich dann mit dem Oberbefehlshaber auf den Weg in die Bibliothek machte.
Es war weit nach Mitternacht, als Ian die Bibliothek verließ und die große Halle betrat. Im Schein der Fackeln saßen die Studenten und die Soldaten an den Tischen beieinander und redeten leise. Die Studentinnen boten den Männern Schalen mit Essen und Wein an und kümmerten sich um die wenigen verletzten Soldaten, die auf Pritschen in einer Ecke des Saales lagen.
Ian sah an sich herunter. Vielleicht hätte er auch kurz auf sein Zimmer gehen und seine Kleidung wechseln sollen. Sein Hemd war blutverschmiert und seine Hose schmutzig und zerrissen. Einige der Studenten bemerkten ihn und riefen jubelnd seinen Namen. Er nickte ihnen zu und setzte seinen Weg fort. Es gab nur einen einzigen Menschen, der ihn jetzt interessierte. Wo war sie?
„Ian!“
Er wandte sich um, und Joanna flog in seine Arme.
„Wie lange wolltest du mich noch warten lassen?“, flüsterte sie.
Ian gab ihr keine Antwort, sondern zog sie dichter zu sich und küsste sie. Und Joanna erwiderte seinen Kuss mit einer Leidenschaft, die ihn kurzzeitig vergessen ließ, wo sie sich befanden. Erschrocken ließ er von ihr ab und sah sich verstohlen um. Doch er begegnete nur freundlichen Blicken, wenn man von Onora absah.
„Na, jetzt kannst du dir die Geheimtuerei schenken, Ian.“ Eloïse grinste. „Und ich hab’s nicht verraten.“
„Eloïse, ich denke diese überschwängliche Begrüßung zwischen Lady Joanna und dem Fechtmeister ist einzig den Geschehnissen dieser Nacht geschuldet“, entgegnete Victorian laut. „Wir sollten dem keine tiefere Bedeutung zumessen.“
„Spielverderber“, murmelte Eloïse, aber plötzlich fiel ihr etwas ein. „Ian, was ist mit Lord Redcliff? Ist er … tot?“
Ian schüttelte den Kopf. Die anderen Studenten kamen neugierig näher, und auch Joanna, die ihn losgelassen hatte, sah ihn interessiert an.
„Samuel lebt, aber er hat einen Schlag auf den Kopf erhalten und war noch nicht ansprechbar“, erwiderte Ian, froh über den Themenwechsel.
„Was wird mit ihm passieren?“, erkundigte sich Victorian.
„Ich habe ihn getrennt von den anderen überlebenden Söldnern einsperren lassen. Morgen wird Sir Perrin sie zum Königshof überführen. Der Kronrat wird entscheiden, was mit Samuel und den anderen Männern geschehen soll.“
Victorian runzelte die Stirn. „Verbrecherische Söldner erwartet der Galgen.“ Er zögerte. „Samuel hat im Wald meinen Plan erkannt und ihn dann unterstützt.“
Will nickte. „Während des Kampfes gegen mich und den Earl hat er nur sehr halbherzig gefochten und schien sich sogar absichtlich von mir treffen zu lassen. Er hat sein Söldnerdasein hinter sich gelassen, er verdient Gnade.“
„Das Urteil über Lord Redcliff sollen Männer
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