Das rote Band
Aufsteigen. „Die beiden machen einen Ausritt ohne Begleitung?“, fragte sie. „Jake, du musst das verhindern. Außerdem hat Victorian heute Nachmittag Fechtunterricht!“
„Nein, hat Victorian nicht“, antwortete ihr Ian. Mit Unschuldsmiene fügte er hinzu: „Jake hat Victorian für heute vom Unterricht befreit, damit er Amira die Gegend zeigen kann. Das hat sie sich nämlich gewünscht.“
Wütend machte Joanna einen Schritt auf ihren Bruder zu. „Haben wir nicht schon genug Probleme, Jake? Brauchen wir jetzt noch Amiras Vater, der sich wegen der verlorenen Ehre seiner Tochter aufregt?“
„Aber die beiden heiraten doch sowieso“, rechtfertigte sich Jake.
Joanna sah ihn böse an. „Ich will deine fadenscheinigen Begründungen nicht hören“, rief sie, ging zum Fenster und beugte sich hinaus. „Victorian, wartet! Ich begleite Euch.“
„Victorian wird darüber nicht glücklich sein“, murmelte Jake.
„Das ist mir egal, ich denke nur an uns“, erwiderte Joanna gereizt. Außerdem war es nicht der junge Lord gewesen, der ihr einen finsteren Blick zugeworfen hatte.
„Joanna?“, sprach Galad sie vorsichtig an. „Wenn du jetzt gehst, was wird dann aus unserer Besprechung?“
„Die findet heute Abend statt. Und seht zu, dass ihr drei bis dahin wieder klar denken könnt!“
„Guten Morgen“, begrüßte Ian Eloïse zwei Tage später in der großen Halle. „Ist neben dir noch ein Platz frei?“
Eloïse nickte. Neben ihr war immer ein Platz frei, seit Victorian nun alle Mahlzeiten am Herrschaftstisch Seite an Seite mit Amira einnahm.
„Victorian scheint sehr angetan von seiner Verlobten zu sein“, sagte Ian mit einem Blick auf die Tafel an der Stirnseite der Halle.
„Das kann man so sagen“, erwiderte sie. Außerhalb des Unterrichtsraumes hatte Victorian keine Zeit mehr für sie. Sie erledigten keine Studienaufgaben mehr zusammen, im Gewächshaus gab es nichts mehr zu tun, und seit gestern Abend kämpften sie auch nicht mehr zusammen. Eloïse verzog das Gesicht, als sie an den vergangenen Tag dachte.
Gestern Nachmittag hatte Amira zum ersten Mal dem Fechttraining der Studenten beigewohnt und zugesehen, wie Victorian mit ihr eine einfache Schlagkombination geübt hatte. Nach der Stunde war Amira zu ihnen auf die Kampffläche gekommen.
„Will, Raine und Harper“, bewundernd hatte Amira die drei angesehen. „Ich habe schon vielen Männern beim Fechttraining zugeschaut, aber eure Fähigkeiten sind wirklich herausragend.“ Sie schenkte den Studenten ein hinreißendes Lächeln, dann legte sie Victorian ihre Hand auf den Arm. „Aber ich denke, nicht jeder Mann muss gut kämpfen können. Du hast andere Stärken, Victorian“, sagte sie mit tröstender Stimme.
Verständnislos hatte Victorian Amira angeblickt, und auch Eloïse hatte diese Worte nicht einordnen können. Doch beim freien Training am Abend wurde die Absicht hinter Amiras Aussage klar. Victorian hatte zuerst seine Verlobte zur Tribüne geleitet, dann war er zu Eloïse gekommen und hatte ihr erklärt, dass er an diesem Abend ausschließlich mit Will kämpfen werde.
Eloïse hatte traurig genickt und begriffen. Amira hatte mit ihren Worten am Nachmittag bewusst Victorians Stolz verletzt. Jetzt wollte er vor seiner Verlobten mit dem Schwert glänzen, um ihre unrichtige Annahme über seine Kampfeskünste zu widerlegen. Aber das konnte er natürlich nicht, wenn er mit ihr simple Degenfolgen übte. Sie seufzte. Victorian würde auf absehbare Zeit nicht mehr mit ihr fechten, so viel war sicher. Lady Amira hatte ihren Willen bekommen.
„Freust du dich auch auf das Winterfeuer am Sonntag?“, erkundigte sich Ian.
Eloïse sah überrascht auf. Sie war so in Gedanken gewesen, dass sie Ian überhaupt nicht mehr zugehört hatte.
„Ja, ja, natürlich“, antwortete sie, auch wenn sie nicht sicher war, ob sie Victorian und Amira zusammen bei dem Fest auf der Wiese hinter der Burg sehen wollte.
Eloïse zog ihren Umhang fester um die Schultern und trat näher ans Feuer. Es war Ende Januar und furchtbar kalt. Sie hätte nichts dagegen, wenn das große Feuer den Winter tatsächlich vertreiben würde.
„Bitteschön, heißer Met für dich.“ Joanna reichte ihr einen irdenen Becher.
Dankbar schloss Eloïse ihre klammen Finger um das warme Gefäß. „Wo ist Ian?“, wollte sie von Joanna wissen.
„Bei den Wettkämpfen hinten am Waldrand. Er tritt mit ein paar Studenten gegen eine Gruppe von Dörflern an. Ringe werfen, Bogen
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