Das rote Band
für ihn auch nie gewesen zu sein: eine billige Hilfe im Gewächshaus, ein amüsanter Zeitvertreib im Unterricht und letztendlich jemand, den er benutzen und dann vergessen konnte. Aber, da er gezwungen war, sie noch drei Monate zu sehen, hatte er vermutlich beschlossen, ihr gegenüber weiterhin als Freund aufzutreten. Eloïse seufzte. Sie würde sich notgedrungen auf dieses Spiel einlassen, doch den Fehler, seinen Worten Glauben zu schenken, würde sie nicht mehr wiederholen.
26
Joanna stieß die Tür zur Bibliothek auf. „Entschuldigt, dass ich zu unserer Besprechung zu spät komme, aber ich ...“ Überrascht hielt sie inne. Jake, Galad und Ian saßen nicht am Tisch, sondern sie standen am Fenster und sahen auf den Burghof hinaus. Ihr Eintreten hatten sie überhaupt nicht bemerkt. Sie ging zu ihnen und schaute ihnen über die Schulter, um herauszufinden, was die drei so fesselte. Als sie den Anlass erkannte, stöhnte sie laut. „Das darf nicht wahr sein!“
Erschrocken fuhren die Männer zu ihr herum.
„Ihr beobachtet Amira?“, fragte sie entrüstet. „Seid ihr Jünglinge oder erwachsene Männer?“
„Aber sie ist wirklich etwas Besonderes!“, verteidigte sich Jake.
„Ach, ich dachte, du interessierst dich nicht für Frauen?“, erwiderte Joanna spitz.
Jakes Wangen färbten sich rot. „Lady Amira steht über den Dingen.“
„Galad!“, rief Joanna und sah den jungen Lehrer empört an. „Sag was.“
„Nun“, erwiderte der Angesprochene, „Amira ist de facto eine sehr elegante Frau und äußerst gebildet, wie Jake schon sagte.“
„Oh, ich glaube es nicht!“ Joanna griff sich an den Kopf. „Seid ihr beide jetzt bekehrt?“
„Natürlich nicht“, beeilte sich Jake zu sagen. „Amira ist einfach nur sehr hübsch anzusehen.“ In lauerndem Tonfall fügte er hinzu: „Weißt du übrigens schon, dass Ian sie vorhin zum Kampftraining der Frauen eingeladen hat?“
Joannas Kopf fuhr zu Ian herum. „Du hast was ?“
„Danke, Jake“, knurrte Ian, und zu Joanna gewandt fuhr er fort: „Sie hat danach gefragt, und da konnte ich doch nicht ablehnen.“ Hilflos zuckte er mit den Schultern.
Böse funkelte Joanna ihn an. „Darüber reden wir heute Abend noch!“
Grinsend legte Jake eine Hand auf Ians Arm. „Wenn meine Schwester nachher zu gemein zu dir ist, darfst du gerne zu mir und Galad kommen“, bot er großzügig an. „Dann können wir ungestört weiter über die Vorzüge von Lady Amira reden.“
Joanna warf Ian und Jake einen strafenden Blick zu. „Was waren das für schöne Zeiten, als ihr beiden euch nicht leiden konntet!“, rief sie. Kopfschüttelnd setzte sie hinzu: „Warum sind alle nur so verzückt von Amira?“
Jake lächelte. „Eifersucht steht dir überhaupt nicht, Schwesterherz.“
„Ich bin nicht eifersüchtig“, widersprach sie, „aber hat denn keiner von euch Bedenken wegen dieser plötzlichen Verlobung?“
„Nein, Amira ist ein Glücksfall für Victorian“, entgegnete ihr Bruder. „Sie ist die Anmut in Person und für eine Frau politisch ungewöhnlich interessiert. Sie wusste sogar von dem geplanten Besuch des Königs in Greystone.“
„Pah!“, erwiderte Joanna.
„Außerdem ist sie sehr hilfsbereit“, sprang Galad seinem Freund bei. „Amira hat angeboten, den Studentinnen Gesangsunterricht zu erteilen. Sie hat mir heute Morgen etwas vorgesungen, eine solche Stimme habe ich noch nie gehört. Ich werde sie fragen, ob ich sie einmal mit der Laute begleiten darf.“
Joanna schnaubte erneut.
„Was soll das dauernde Grummeln, Joanna?“, wollte Jake wissen. „Gib es ruhig zu, Lady Amira ist perfekt.“
„ Zu perfekt für meinen Geschmack.“ Sie stützte die Hände in die Taille. „Sie ist die Tochter eines Marquess. Warum will sie in Greystone leben? Auf Walraven hätte sie es viel komfortabler.“
„Sie ist eben in Victorian verliebt“, entgegnete Galad.
Joanna verzog das Gesicht. „Seid ihr da sicher?“
„ Alle Frauen sind in Victorian verliebt“, antwortete ihr Bruder, als verkünde er eine unumstößliche Wahrheit.
„Nein“, erwiderte Joanna. „Alle Frauen begehren ihn wegen seines zukünftigen Titels als Duke of Walraven. Die Einzige, die in Victorian als Person verliebt ist, ist Eloïse.“
Jake sah sie genervt an. „Das Thema hatten wir schon!“
„Moment mal!“ Joanna drängte sich an ihrem Bruder und Galad vorbei ans Fenster. Im Vorhof war Victorian mit zwei Pferden erschienen und half Lady Amira beim
Weitere Kostenlose Bücher