Das rote Band
während dieser Zeit Gelegenheit gehabt, es zu besorgen.
Langsam ging Joanna in Richtung der Halle. Das Winterfeuer war beendet, und der Saal gefüllt mit hungrigen und vergnügten Menschen. Nur an der Herrschaftstafel waren noch drei Plätze unbesetzt: ihr eigener sowie die Stühle von Amira und Victorian. Joanna hielt die Luft an. Über eine Sache hatte sie sich noch gar keine Gedanken gemacht: Wie hatte die Person Victorian das Pulver verabreicht? Es war nicht im Weinkrug gewesen, sonst hätte es auch Jake, Galad und sie selbst getroffen. Nein, jemand musste es gegen Ende des Essens in Victorians Wein geschüttet haben. Jemand, der ohne Schwierigkeiten seinen Becher anfassen konnte …
Amira! Sie hatte neben Victorian gesessen. Vermutlich hatte sie ihm auch eingeschenkt und das Pulver mitgebracht. So musste es sein! Das würde auch ihr Verhalten erklären, welches – wie Eloïse treffend bemerkt hatte – sehr auffällig gewesen war. Auf dem Fest hatte sich Amira keine Gedanken um Victorian gemacht, und kurz darauf hatte sie die besorgte Verlobte gespielt! Wahrscheinlich hatte sie herausfinden wollen, ob sie – Joanna – einen Verdacht hegte. Ja, den hatte sie, dachte sie grimmig. Allerdings musste sie Amiras Beweggründe herausfinden und einen Beweis für ihre Verdächtigungen finden. Sonst würden ihr Ian, Jake und Galad niemals glauben und es wieder als Eifersucht auslegen.
Kurzentschlossen verließ Joanna die große Halle wieder. Vor Victorians Zimmer blieb sie stehen und lauschte. Von drinnen ertönte eine Unterhaltung zwischen ihm und Amira. Sie nickte zufrieden und lief den Gang hinunter bis zum Treppenturm. Eilig stieg sie die Stufen hinauf und hastete weiter, bis sie Amiras Gästezimmer erreichte. Vorsichtshalber klopfte sie an, doch erwartungsgemäß rief niemand sie herein. Geräuschlos drückte Joanna die Klinke herunter. Das Zimmer war offen, und nach einem kurzen Zögern huschte sie hinein. Fieberhaft sah sie sich um. Wo könnte man einen Beutel oder ein Holzkästchen verstecken? Auf dem Schreibtisch standen mehrere Tiegel, Töpfe und Dosen. Das schien sehr offensichtlich, andererseits vielleicht gerade deshalb das perfekte Versteck! Joanna seufzte. Das Feuer im Kamin spendete nur spärlich Licht, aber sie würde die Kristalle des Brechweinsteins auch am süßlichen Geschmack erkennen können. Rasch ging sie zum Schreibtisch und öffnete das erste Döschen.
Nach einer Weile stellte Joanna enttäuscht das letzte Gefäß an seinen Platz zurück. In den Behältern waren nur Schminke, Schmuck und Duftöle gewesen. Zu gerne hätte sie sich nun den Kleiderschrank vorgenommen, aber das musste sie auf morgen verschieben, denn Amira könnte jederzeit zurückkehren. Sie ging zur Tür und öffnete sie leise – und sah Amira direkt ins Gesicht, die auf dem Gang stand.
Amira blickte sie kalt an, ihr ständiges Lächeln war verschwunden. „Darf ich erfahren, was Ihr in meinem Zimmer zu suchen habt, Lady Joanna?“, fragte sie kühl.
„Ich bin die Burgherrin und habe überprüft, ob die Dienstmägde ihre Aufgabe ordentlich erfüllt haben“, antwortete Joanna, froh, dass ihr so schnell eine plausible Erklärung eingefallen war.
„Ihr hättet mich fragen können“, erklärte Amira.
„Ich überzeuge mich gerne selbst.“
„Das glaube ich Euch aufs Wort.“ Amiras harter Gesichtsausdruck verschwand, und sie lächelte wie gewöhnlich. „Ich habe heute beim Winterfeuer den Fechtmeister beobachtet“, wechselte sie das Thema. „Ian ist ein sehr anziehender Mann, findet Ihr nicht auch?“
„Manche Frau mag das so sehen“, erwiderte Joanna ausweichend. Worauf wollte Amira hinaus?
„Ich frage mich, ob Ian sein gutes Aussehen nicht dann und wann schon ausgenutzt hat, um sich ein bisschen Vergnügen zu verschaffen?“ Amira seufzte. „Eine Umarmung, ein Kuss, eine Nacht?“
„So etwas würde Ian nie tun!“, rief Joanna.
„Nein?“ Amira zog die Augenbrauen nach oben. „Bei so vielen jungen Frauen in der Burg ist ein Mann doch ständig in Versuchung.“
Joanna verschränkte die Arme vor der Brust. „Ian ist nicht solch ein Mann, das weiß jeder!“
Amira blickte sie an, als wäre sie ein unverständiges Kind. „Und wenn ich nun schwören würde, Ian hätte mich bedrängt?“, fragte sie mit sanfter Stimme.
Joannas Unterlippe zitterte. „Das würde Euch niemand glauben.“
Amiras Augen wurden kalt. „Wollen wir die Probe machen: Mein Wort gegen das eines Ehrlosen?“ Sie lachte. „Ich
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