Das rote Band
Studenten an, diese Kombination in den Gruppen zu üben.
Eloïse war verwirrt. Obwohl Ian die Abfolge dreimal vorgeführt hatte, hatte sie sich die Reihenfolge nicht merken können. Leroy sah ebenso hilflos aus wie sie, Crispin und Victorian hingegen nickten, stellten sich nebeneinander auf, zogen ihre Schwerter und wiederholten die von Ian gezeigte Angriffsfolge.
Eloïse sah sich in der Waffenhalle um. In den anderen drei Gruppen zeichnete sich das gleiche Bild ab wie bei ihnen: Die einen fochten, die anderen standen ratlos herum. Was hatte sich Ian nur dabei gedacht? Victorian hatte mit seinem Einwand doch recht gehabt! Sie schnaubte verärgert. Den ganzen Nachmittag nur zuzuschauen, war vertane Zeit. So würde sie das Kämpfen nie lernen! Es musste etwas geschehen …
„Crispin, Victorian!“, rief sie schließlich. „Leroy und ich können diese Angriffskombination nicht, ihr müsst sie uns zeigen!“
Die beiden Angesprochenen ließen ihre Waffen sinken und drehten sich zu ihr um.
„Ich würde behaupten, das ist die Aufgabe des Fechtmeisters“, sagte Victorian kühl.
„Aber Ian hilft gerade Finley und Prosper“, erwiderte Crispin. „Komm zu mir, Korin, ich erkläre dir die Schlagabfolge noch mal.“ Er ließ Victorian stehen, dem nichts anderes übrig blieb, als sich Leroy zuzuwenden.
Bereits nach kurzer Zeit hatte die beiden unfreiwilligen Lehrer der Ehrgeiz gepackt. Immer wieder zeigten sie Eloïse und Leroy die Schläge, führten ihnen die Arme und sparten nicht mit Ratschlägen, die ihnen selbst als Anfänger weitergeholfen hatten.
„Warte, Korin, mir kommt eine Idee!“, rief Crispin plötzlich. „Ich will etwas ausprobieren.“ Er wiederholte die Kombination, variierte dabei aber an einer Stelle die Haltung seines Rückens. „Ha!“, sagte er voll Genugtuung. „Wenn man sich beim zweiten Schritt leicht zur Seite dreht, wird der Schlag schwungvoller.“
Victorian, der ihm zugesehen hatte, probierte es aus. „In der Tat“, stimmte er zu. „Ich kenne diese Kombination seit Längerem, aber auf diese Verbesserung bin ich nie gekommen.“ Er sah zu Leroy. „Nimm die Anfangsposition ein, ich bringe dir Crispins Trick bei.“
„Wie ich sehe, habt Ihr Euch selbst geholfen.“ Ian war unbemerkt zu ihnen gekommen.
„Da du es nicht tust“, erwiderte Victorian knapp.
Ian ging auf die Spitze nicht ein. „Leroy, bitte führt mir die Kombination vor.“
Der schwarzhaarige junge Mann trat vor und folgte Ians Aufforderung.
„Sehr gut“, sagte Ian. „Interessante Abwandlung.“
„Das war Crispins Einfall“, erklärte Leroy ehrlich.
„Nicht schlecht, Crispin.“ Ian nickte anerkennend. „Behaltet die Veränderung bei, jeder von Euch.“
„Willst du uns nicht ansehen?“ Victorian verschränkte die Arme vor der Brust.
„Nicht nötig, ich habe Euch aus der Ferne beim Üben beobachtet“, antwortete Ian, bevor er die Stunde beendete und die Studenten zurück in die Burg schickte.
„Mir ist vollkommen klar, was du heute Nachmittag bezwecken wolltest!“ Eloïse sah Ian am Abend wissend an, als sie wieder nur zu zweit beim freien Training in der Waffenhalle standen.
Ian grinste. „So?“
„Alle haben angestrengt trainiert: wir schwächeren Kämpfer sowieso und die besseren durch das viele Vorführen. Außerdem haben wir selbstständig Variationen entdeckt.“
„Schlaues Kerlchen!“ Ian lachte. „Freut mich, dass wenigstens einer es zu würdigen weiß. Und jetzt nehmt Euer Schwert.“
Eloïse stöhnte. Das Nachmittagstraining hatte sie schon vollkommen erschöpft. „Muss ich?“, fragte sie und warf ihm einen flehenden Blick zu.
„Ja, denn ich sehe keinen anderen Weg, Euch sonst durch die Zwischenprüfung zu bringen“, antwortete er ernst.
Die Muskelschmerzen am nächsten Morgen waren grauenvoll, und Eloïse kam kaum aus dem Bett. Außerdem war sie hundemüde, und die Aussicht, gleich mit Victorian wieder in Agrarkunde zusammenarbeiten zu müssen, machte den Tag auch nicht besser. Vorsichtig erhob sie sich und schlüpfte in ihre Hose. Wahrscheinlich hatte Victorian Lord Tennison längst um einen anderen Partner gebeten. Trotzdem würde sie ihm sagen, dass ihre Worte gestern nicht böse gemeint waren. Sie machte gerne witzige Bemerkungen, aber sie wollte niemanden damit beleidigen. Und beleidigt hatte sie ihn, soviel war sicher! Vermutlich würde sie für ihre Entschuldigung nur einen eisigen Blick von ihm ernten, aber er sollte wissen, dass es nicht in ihrer
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