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Das rote Band

Das rote Band

Titel: Das rote Band Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dana Graham
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Absicht gelegen hatte, ihn zu kränken.
    Zum Glück war Lord Tennison noch nicht im Unterrichtssaal anwesend, und Eloïse ging direkt zu Victorian, der bereits an seinem Platz saß. „Victorian, was ich gestern sagte – dass du dein Portrait an die Tür nageln sollst – das war nicht nett.“ Sie hob entschuldigend die Hände. „Es tut mir leid. Da das Papier vermutlich nicht mehr existiert, habe ich die Burg und die Felder gestern Abend nochmal neu gezeichnet.“ Sie kramte ihr Skizzenbuch aus ihrer Tasche, blätterte auf die Seite mit dem neuen Entwurf und hielt es ihm hin. Nervös betrachtete sie ihn und wartete auf seine Reaktion. Bis jetzt hatte er nichts gesagt, und auch sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos. „Victorian?“, fragte sie vorsichtig.
    Statt einer Antwort stand er auf, und sie wich sicherheitshalber einen Schritt vor ihm zurück. Doch er lief an ihr vorbei zu ihrem Platz, packte ihren Tisch, hob ihn hoch und stellte ihn neben seinem ab. Dann ging er zurück und holte ihren Stuhl. Mit einem Kopfnicken bedeutete er ihr, sich zu setzen.
    Verwundert legte Eloïse ihr geöffnetes Skizzenbuch auf den Tisch und ließ sich nieder. Es war wohl seine Art zu zeigen, dass er ihre Entschuldigung akzeptierte.
    „Ich habe über unseren gestrigen Disput zur besten Getreidesorte nachgedacht“, eröffnete Victorian das Gespräch. „Bei meiner Planung hatte ich die fruchtbare Erde von Walraven im Sinn, du aber vermutlich den steinigen, trockenen Boden des Parnea-Gebirges.“ Er blickte ihr in die Augen. „Wie du siehst, habe ich Erkundigungen über dich eingeholt. So, wie du über mich.“
    Sie errötete, als sie an die Unterhaltung mit Raine dachte. „Hauptsache, wir können jetzt besser miteinander arbeiten“, erwiderte sie versöhnlich.
    Victorian nickte. „Was wären deine Vorschläge für den Getreideanbau?“
    „Hauptsächlich Hafer. Allerdings“, sie lächelte, „könnte ein bisschen Blauweizen sicher auch nicht schaden.“
    Er reagierte nicht auf ihren Scherz. „Dann nimm deine Feder und schreibe es auf“, wies er sie an.
    Liebenswürdig wie immer, dachte Eloïse und griff nach ihrem Skizzenbuch.
    „Warte!“ Victorian legte seine Hand auf die Seiten des Buches. „Ist das dein Zeichenbuch? Gib es mir, ich will es ansehen.“
    Seufzend schob sie es zu ihm hinüber. Befürchtete er, sie hätte irgendwelche Karikaturen von ihm angefertigt?
    Victorian schlug das Buch auf und blätterte es interessiert durch. Plötzlich hielt er inne und starrte mit großen Augen auf eine Seite.
    Neugierig sah Eloïse ihm über die Schulter und erschrak. Wie hatte sie diese Zeichnung vergessen können?
    „Wer ist die junge Frau?“, wollte Victorian wissen und deutete auf ihr Selbstporträt. „Deine Schwester? Sie ist hübsch.“
    „Nein, ist sie nicht!“ Eloïse hoffte inständig, er würde die Wahrheit nicht erkennen.
    „Nicht hübsch oder nicht deine Schwester?“, hakte Victorian nach.
    „Sie ist meine Schwester, aber niemand findet sie hübsch.“
    „Ich schon“, gestand er.
    „Das Bild ist geschönt.“ Eloïse nahm Victorian das Buch aus der Hand und schlug schnell die Seite mit der Burgskizze auf. „Lass uns jetzt endlich anfangen, sonst haben wir am Ende dieser Stunde wieder keine Ergebnisse!“
     
    Nachdem Lord Tennison den Saal verlassen hatte, stand Eloïse auf und wollte ihren Tisch in die Ecke zurückschieben, doch ein Knurren von Victorian ließ sie innehalten.
    „Lass den Tisch stehen!“, sagte er. „Du bist recht unterhaltsam und auch nicht auf den Kopf gefallen, du darfst neben mir sitzen bleiben.“
    Eloïse blieb über so viel Hochmut fast die Luft weg, aber nur fast. „Wie überaus großzügig von dir“, antwortete sie trocken.
    „Viele würden es in der Tat als Ehre ansehen, neben mir Platz nehmen zu dürfen. Doch wenn du woanders sitzen möchtest …“ Er machte eine weitläufige Handbewegung.
    „Nein, diese Auszeichnung lasse ich mir natürlich nicht entgehen! Ich werde meinen Enkelkindern noch davon erzählen, dass ich einst neben dem berühmten Duke of Walraven saß.“ Sie ließ sich zurück auf den Stuhl fallen und gähnte laut. Am liebsten hätte sie ihren Kopf auf die Tischplatte gelegt, doch Maître Duvalière, der Fremdsprachenlehrer, betrat den Raum.
    Der Maître, ein kleiner, rundlicher Mann mit Spitzbart, begann, in seiner Muttersprache einen Vortrag über die Schönheit der südlichen Städte zu halten, und stellte gelegentlich einzelnen Studenten

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