Das rote Band
.“ Raine schob die Schüssel wieder zurück. „Ihr wollt bestimmt nichts nehmen, das schon ein Pirat in den Händen gehalten hat.“
„Oh, so zurückhaltend kenne ich dich gar nicht“, höhnte Victorian, hob die Suppenschüssel hoch und stellte sie schwungvoll vor Raine ab. „Normalerweise nimmt sich deine Familie alles, ohne zu fragen.“
„Dein Vater hat uns die Insel doch geradezu auf dem Silbertablett serviert!“, rief Raine aufgebracht. „Wenn er ...“
„ Das reicht!“ Eloïse sprang auf und schnappte sich die Suppenschüssel. „Entweder ihr zwei esst und führt eine Unterhaltung wie anständige Lords, oder ihr geht in die Waffenhalle und klärt die Sache endgültig! Aber mit eurem kindischen Gezanke verderbt ihr uns anderen den Appetit!“ Sie funkelte die beiden jungen Männer an, die sie sprachlos anstarrten.
Harper hingegen lachte laut. „Unser Hänfling hat recht: Ihr beiden nervt!“
Prosper und Leroy, die zu Victorians Unterstützung an den Tisch geeilt waren, mussten ebenfalls ein Lachen unterdrücken.
Raine seufzte, nahm seine Schale und füllte sich Suppe ein. „Deine Worte sind weitaus schärfer als dein Schwert, Korin“, sagte er.
Eloïse nickte, nahm ihm die Kelle ab und reichte sie Victorian. Der junge Lord of Walraven schwieg, und sein Gesichtsausdruck war distanziert wie immer, doch sie hätte schwören können, dass er ihr kurz zugezwinkert hatte, als er die Kelle entgegennahm.
An diesem Nachmittag fand kein Waffentraining statt, sondern Reitunterricht. Eloïse war eine gute Reiterin, doch das Training zu Pferde und die frische Luft ermüdeten sie noch mehr. Zurück in ihrem Zimmer musste sie sich zwingen, sich nicht ins Bett zu legen, denn sie hätte mit Sicherheit bis zum nächsten Morgen durchgeschlafen und das Training mit Ian am Abend verpasst. So setzte sie sich an ihren Schreibtisch, um an dem Familienstammbaum für Lord Lionsbridge weiterzuarbeiten. Gähnend nahm sie die Schreibfeder, stützte ihren Kopf mit der Hand ab und überflog ihre bisherigen Niederschriften. Als Nächstes musste sie die Namen ihrer Urgroßeltern eintragen, aber ihre Gedanken schweiften immer wieder zu Victorian.
Mittlerweile hatte Eloïse keine Ahnung mehr, wie sie ihn einschätzen sollte. Er war herablassend, maßlos von sich selbst überzeugt und neigte zu unberechenbaren Stimmungswechseln. Und doch hatte er sie am ersten Tag gegen Harpers Angriff verteidigt, ihr in der Geografiestunde geholfen und fand sie hübsch – nun ja, zumindest ihr Bildnis. Sie schüttelte den Kopf. Seine Bemerkung über ihr Aussehen konnte sie getrost als Schmeichelei abtun. Andererseits konnte man Victorian viel vorwerfen, aber ein Lügner war er nicht! Er tat seine Meinung stets offen kund, ohne Rücksicht auf die Gefühle seiner Mitmenschen. Seufzend tauchte Eloïse den Gänsekiel in das Tintenfässchen. Egal, wie sie es drehte und wendete: Victorian of Walraven blieb ihr ein Rätsel!
„Ein Ausfallschritt rechts, mit dem Schwert zustoßen und das Gewicht sofort auf den linken Fuß verlagern. Habt Ihr es verstanden, Korin?“ Fragend sah Ian sie an.
Eloïse blinzelte. Sie konnte mittlerweile kaum noch ihre Augen offen halten, von Konzentration ganz zu schweigen. Ihre Muskeln brannten wie Feuer, und am liebsten hätte sie Ian das Holzschwert vor die Füße geworfen, doch das konnte sie ihm nicht antun. Wie an den vorangegangenen Abenden waren sie wieder nur zu zweit in der Waffenhalle, und Ian bemühte sich mit einer schier endlosen Geduld, ihr diesen vermaledeiten Angriffsschlag beizubringen.
„Wollt Ihr es zunächst ohne Schwert probieren?“, schlug er vor. „Dann ist es weniger anstrengend. Legt es auf die Tribüne.“
Erleichtert nickte Eloïse, drehte sich in Richtung der Stufen und blieb wie angewurzelt stehen. Am Eingang der Waffenhalle stand Victorian! Sie konnte nicht sagen, wie lang er sie schon beobachtet hatte.
Auch Ian hatte ihn entdeckt und ging auf ihn zu. „Guten Abend, Victorian. Wollt Ihr am Training teilnehmen?“, erkundigte er sich erfreut.
„Sicher nicht.“ Victorian blickte Ian an, als habe dieser ihm vorgeschlagen, Pfützenwasser zu trinken. „Ich bin gekommen, um mir dein Training mit Korin anzuschauen.“
Eloïse, die die Chance genutzt hatte, sich auf die Tribüne zu setzen, erschrak. Hoffentlich glaubte Ian jetzt nicht, sie hätte sich über ihn beschwert! „Es ist alles in Ordnung, Victorian“, sagte sie schnell. „Ich lerne nur furchtbar langsam und bin
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