Das rote Band
scharf und neugierig zugleich. „Du würdest eine Freundschaft mit mir eingehen wollen, trotz allem, was Raine dir vermutlich über mich erzählt hat?“
Sie hielt dem Blick aus seinen blauen Augen stand. „Ja.“
„Gut.“ Victorian nickte langsam. „Du musst wissen, dass ich nur sehr wenige Freunde besitze. Und die Eigenschaft, die ich am meisten an ihnen schätze, ist Ehrlichkeit.“
Eloïse erwiderte nichts. Was sollte sie auch sagen? Ja, Victorian, das sehe ich genauso und übrigens, ich bin eine Frau? Nein. Das Ausbildungsjahr dauert noch genau acht Monate. Ein übersichtlicher Zeitraum, in dem sie ihr Geheimnis würde verbergen können. Und danach würde ihr Zusammensein sowieso enden, denn dass sich Victorian außerhalb der Mauern Greystones mit dem Sohn eines verarmten Barons abgab, konnte sie sich kaum vorstellen.
Er legte ihr Schweigen wohl als Zustimmung aus und sprach weiter: „Du hattest Fragen.“ Er wies auf einen Hocker. „Ich war ohnehin am überlegen, dich einzuweihen, denn es könnte vielleicht die Lösung für eure Schwierigkeiten in Coldhill sein.“
Gespannt ließ Eloïse sich nieder und sah ihn an.
„Seit ich ein Kind war, interessiere ich mich für Pflanzen und den Ackerbau“, begann Victorian. „Und immer wieder stellte ich mir die gleiche Frage: Wie bringe ich die Pflanzen am besten zum Wachsen? Später habe ich fasziniert beobachtet, wie fremde Getreidesorten über das Meer nach Telamen kamen. Von da an war es die Suche nach dem perfekten Saatgut, die mich beschäftigte. Ich begann, jede Sorte fremdländischen Saatguts zu kaufen, die ich auftreiben konnte, um Versuche damit durchzuführen und mehr über seine Wachstumsbedingungen zu erfahren. Seit Jahren stehe ich mit Lord Tennison im Briefwechsel, und in diesem Jahr bin ich nach Greystone gekommen, um mit seiner Hilfe und Erfahrung weiter zu forschen!“
Eloïse wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hätte Victorian einiges zugetraut, aber keine wissenschaftlichen Neigungen! „Und wie kommst du hier voran?“, fragte sie.
„Ich bin noch am Aufbauen. Ich habe mehrere Versuchspflanzen von zu Hause mitgebracht und muss sie nach meinen Aufzeichnungen ordnen.“ Er zeigte auf die herumliegenden Papiere und Töpfe.
Erst jetzt bemerkte Eloïse, dass die Gefäße mit Nummern versehen waren. Sie nahm sich eines der herumliegenden Blätter: Es trug ebenfalls eine Nummer, war mit Stichpunkten beschrieben und mit einer Zeichnung versehen. Eloïse grinste. „Hast du das gemalt, oder hast du ein Kind damit beauftragt? Es ist furchtbar schlecht.“
„Ich weiß.“ Er hob entschuldigend die Hände. „Doch eine Zeichnung hilft sehr beim Aufschreiben meiner Ergebnisse.“
„Aber sicher nur, wenn sie gut ist.“ Eloïse stand auf und ging zu einem Tintenfässchen mit Feder, das sie in einer Ecke entdeckt hatte. Sie schnappte sich ein Papier und skizzierte eine Weizenähre.
Victorian trat zu ihr und sah anerkennend auf das Blatt. „Ich hätte nichts dagegen, wenn du für mich zeichnen würdest.“
„Einverstanden!“, erwiderte Eloïse sofort. „Aber vorher musst du mir noch erklären, wie du Coldhill retten willst.“
„Der Boden in Coldhill ist steinig, karg und trocken“, erklärte er. „Wir stellen ihn in den Töpfen nach, säen verschiedene Sorten Hafer und Weizen aus und begrenzen die Wasserzufuhr. So sehen wir, welche Pflanzensorte am besten in Coldhill gedeihen würde, und dieses Saatgut könnt ihr dann kaufen, und eure nächste Ernte ist gesichert.“
Eloïse warf ihm einen bewundernden Blick zu. „Sehr einfach und sehr genial.“
„Danke.“ Victorians Wangen röteten sich leicht und er deutete eine Verbeugung an.
„Soll ich dir beim Aufräumen helfen?“, bot sie an.
„Es würde mich freuen“, gab er zu. „Aber nicht mehr über meine Kritzeleien lachen, versprochen?“
„Ja, nur wenn du wieder überheblich wirst.“ Sie lächelte ihn an und wandte sich den Saattöpfen zu.
Langsam ging Victorian zu der Holzkiste, die er auf dem Boden abgestellt hatte. In Gedanken war er noch bei dem vorangegangenen Gespräch. Er freute sich wirklich über Korins Freundschaftsangebot, auch wenn er es nur verhalten angenommen hatte. Aber das Zeigen von Gefühlen hatte noch nie zu seinen Stärken gehört, außerdem ziemte es sich für ein Mitglied des Hochadels nicht, seine Empfindungen lauthals kundzutun. Dass er deswegen als humorlos und reserviert verrufen war, kümmerte ihn nicht weiter. Nur die wenigsten
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