Das rote Band
seiner Mitmenschen machten sich die Mühe, ihn wirklich kennenlernen zu wollen.
Victorian beugte sich hinunter und hob die Kiste auf. Was war es nur, das ihn an Korin so fesselte? Er war nichts Greifbares, vielmehr der Wunsch, dem jungen Mann nahe zu sein. Vor Schreck wäre Victorian beinahe die Kiste aus den Händen gerutscht. Die Gerüchte um den Earl of Greystone und dessen Vorlieben waren ihm nicht unbekannt. Sollte auch er selbst …? Nein, das konnte nicht sein! Und doch sprach Korin ihn mehr an, als es bisher eine Frau vermocht hatte.
Geschockt stellte Victorian die Kiste auf einem Tisch ab und schielte zu Korin hinüber, der ein paar Schritte entfernt Erde in die Tontöpfe füllte. Wäre es besser, jeden Umgang mit ihm zu vermeiden, um diese verbotenen, falschen Triebe nicht weiter zu verstärken? Entschieden schüttelte er den Kopf – er musste sich irren! Er war der Sohn eines Dukes und stand über solchen Verfehlungen! Sein Blick fiel auf die Skizze von der Weizenähre, und plötzlich dämmerte es ihm. Es war diese Zeichnung, das Bild von Korins Schwester, das ihn so verwirrte! Ihr Portrait hatte ihn auf sonderbare Weise verzaubert, und da die junge Frau ihrem Bruder Korin unglaublich ähnlich sah, hatte er seine Begeisterung wohl auf Korin übertragen. Erleichtert atmete Victorian aus. Das musste die Erklärung sein!
Er nahm die Pakete mit Saatgut aus der Kiste und stapelte sie auf dem Tisch. Ob Korins Schwester im Laufe des Jahres zu Besuch nach Greystone kommen würde? Er musste Korin bei Gelegenheit danach fragen, ohne natürlich sein Interesse zu offensichtlich zu bekunden. Schließlich war die junge Frau nur die Tochter eines Barons und keinesfalls eine in Frage kommende Braut für ihn. Trotzdem er war neugierig darauf, ihre Bekanntschaft zu machen.
Zufrieden räumte Victorian die nun leere Kiste unter den Tisch. Dieses Mysterium war gelöst! Und das Beste daran ist, dachte er, dass ich weiterhin unbesorgt mit Korin zusammen sein kann . Victorian lächelte zufrieden. Er gewährte nur wenigen Menschen Einblicke in sein Innerstes, doch der junge Student aus dem Parnea-Gebirge war auf dem besten Weg, eine dieser Personen zu werden.
Am Abend lag Eloïse im Bett und dachte nach. Heute Nachmittag hatte sie einen ganz anderen Victorian kennengelernt: fröhlich, witzig und mitreißend. Kein Vergleich zu dem arroganten Mann, den sie die vergangene Woche über erlebt hatte! Ob es viele Leute gab, die Victorians zweite Seite kannten? Hier in der Burg möglicherweise Prosper und Leroy, doch sie war sich nicht sicher. Aber eines stand fest: Der Victorian aus dem Gewächshaus gefiel ihr gut! Sie runzelte die Stirn. Fast schon zu gut … Allerdings blieb abzuwarten, wie er sich ihr morgen gegenüber benehmen würde. Vielleicht bereute er es schon, sie ins Vertrauen gezogen zu haben!
Beim Frühstück am nächsten Tag begrüßte Victorian Eloïse mit etwas, das man mit einigem guten Willen als Lächeln bezeichnen konnte, und im Laufe des Vormittags wurde er immer zugänglicher.
„Entspricht mein heutiges Verhalten deinen Erwartungen?“, fragte er sie beim Mittagessen. Sein Tonfall war ernst, aber es schwang eine Spur von Ironie mit.
„Es ist annehmbar, aber ausbaufähig“, erwiderte Eloïse mit einem Zwinkern.
„Du bist schwer zufriedenzustellen, merke ich.“
Victorian lachte und sah sie mit leuchtenden Augen an – und Eloïses Herz machte einen Sprung. Ihre Hände wurden feucht, und ihr Magen zog sich zusammen. Zum Glück nahmen gerade Prosper, Finley und Leroy an ihrem Tisch Platz und lenkten Victorian ab. Das war gut, denn sie brauchte einen Moment, um sich klarzumachen, was diese Anzeichen ihres Körpers bedeuteten: Sie war auf dem besten Wege, sich in Victorian zu verlieben! Eloïse fluchte innerlich, während sie versuchte, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Ihre Anwesenheit hier war kompliziert genug, da musste sie es nicht noch schlimmer machen! Andererseits war es einzig Victorians Schuld, rechtfertigte sie sich. Er hätte nicht lachen dürfen, denn das sah traumhaft aus! Kein Wunder, dass er immer mit so einer verhärmten Miene durch die Gegend lief. Würde er ständig lachen, die Damen würden reihenweise in Ohnmacht fallen! Nur war sie keine Dame und durfte sich demnach nichts anmerken lassen. Eloïse ließ die Schultern sinken. Das Ganze war aussichtslos: Victorian hielt sie für einen Mann, und, sollte er irgendwann herausfinden, dass sie eine Frau war … Seine
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