Das rote Flugzeug
wie ein Fels. Nein, das war ein mißglückter Vergleich. Wie spät war es?
Halb eins. Sie merkte, daß sie schläfrig war, und unternahm nochmals eine entschlossene Anstrengung, in ihr Buch hineinzufinden. Eine Zeitlang konnte die Geschichte tatsächlich ihre Aufmerksamkeit fesseln; als sie das nächste Mal aufblickte, war es gerade eins.
Ein Gähnen unterdrückend, stand sie auf und ging zum Bett. Fürsorglich drehte sie ihre Patientin auf die andere Seite und achtete dabei darauf, daß der Unterarm frei und natürlich lag. Sie war ein klein wenig stolz, als sie an den regelmäßigen Atemzügen der jungen Frau hörte, daß diese ruhig weiterschlief und durch das Umbetten nicht gestört worden war.
Im Ankleidezimmer zündete sie den Spirituskocher an und stellte den Topf mit der Milch über die blaue Flamme. Als sie sich fertig ausgezogen und ihren Morgenrock übergeworfen hatte, war es Zeit, den Kaffee zu brauen.
Ganz plötzlich wurde sich Elizabeth bewußt, daß sie trotz aller Müdigkeit eine angenehme Befriedigung verspürte. Die alte nagende Unzufriedenheit mit dem Leben war verschwunden. Elizabeth war als Matrose auf dem Schiff des Lebens mitgefahren; jetzt war sie Erster Offizier. Sie hätte die Rolle des einfachen Matrosen vielleicht nie übernehmen müssen, wäre nicht bei ihrer Rückkehr von der Universität Hetty schon Haushälterin auf Coolibah gewesen, oder wäre Hetty damals zur einfachen Hausangestellten zurückgestuft worden. Aber Hetty hatte ihre wichtige Stellung behalten – mit Elizabeths stillschweigender Zustimmung. Und Elizabeth hatte ihre Matrosenrolle gespielt.
Mit einer Tasse frischem Kaffee ging sie zu dem kleinen Tisch am Kopfende des Betts, maß sorgfältig einen Teelöffel Kognak ab und gab ihn in den Kaffee. Und während sie der Patientin den Trank löffelweise einflößte, sprach sie leise zu ihr.
Nachdem Elizabeth selbst eine Tasse Kaffee getrunken und die Brote gegessen hatte, die Hetty ihr gemacht hatte, fühlte sie sich wieder viel munterer. Eine Stunde las sie, hielt nur ab und zu inne, um auf die Atemzüge der Patientin zu lauschen. Draußen bellte der Hund hartnäckig weiter, und das Gekläff begann ihr auf die Nerven zu fallen. Warum konnte der Köter nicht einmal mit Grund kräftig bellen und dann Schluß machen, anstatt unentwegt halb jaulend in die Nacht zu kläffen?
Sie wandte sich wieder ihrem Buch zu. Gegen vier Uhr spürte sie von neuem das überwältigende Verlangen, sich niederzulegen und zu schlafen. Eine weitere Tasse Kaffee war angesagt; es war sowieso fast Zeit, der Patientin welchen zu geben. Sie stand auf und streckte sich ausgiebig, ehe sie ins Ankleidezimmer ging.
Neben dem Tisch, auf dem der Spirituskocher stand, war ein hoher Ankleidespiegel. Er befand sich schräg gegenüber der Schlafzimmertür, die halb offenstand. Als sie den Kaffee gekocht hatte, hörte sie ein feines Geräusch und drehte sich halb um. Im Spiegel sah sie die Gestalt eines Mannes, der mit dem Rücken zum Ankleidezimmer am Nachttisch stand, auf jener Seite, die der Tür zum Korridor am nächsten war.
Obwohl sie das Gesicht des Mannes nicht sehen konnte, war sie sicher, daß es Dr. Knowles war. Er war vollständig angekleidet, trug einen dunklen Anzug, wie der Arzt ihn am Abend angehabt hatte. Der Doktor war wohl schon jetzt zu dem versprochenen frühmorgendlichen Besuch gekommen, obwohl sich am Himmel vor dem Fenster noch kein Fünkchen Tageslicht zeigte. Ohne sich stören zu lassen, stellte Elizabeth Kaffeekanne und Tassen auf ein kleines Tablett. Als sie fertig war, trat sie mit dem Tablett in den Händen ins Schlafzimmer und sah gerade noch, wie sich die Tür zum Korridor hinter dem Besucher schloß.
In der Erwartung, auf dem Nachttisch ein Medizinfläschchen zu finden, stellte sie das Tablett auf dem großen Tisch ab und ging zum Bett. Aber auf dem Nachttisch war nichts, kein Medikament, keine Nachricht für sie; nur der Wasserkrug, die offene Kognakflasche und der Teelöffel waren da.
Eine Halluzination! Ein Wachtraum! Sie öffnete die Tür zum Korridor und sah – wie sie erwartet hatte – niemanden. Das Licht der Petroleumlampe auf dem Tisch leuchtete den ganzen Flur aus. Es war niemand da, und wenn es keine Täuschung gewesen war – wenn Dr. Knowles wirklich da gewesen war, hatte er genug Zeit gehabt, in sein Zimmer zu gelangen.
Die Sache, sagte sie sich, während sie ins Zimmer zurückkehrte, hatte bestimmt eine natürliche Erklärung. Dr. Knowles hatte nicht
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