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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Erinnerungen wach. Auch wenn es Großmutter nicht recht war, hatte er oft ein paar Tage im Dorf an der Salzwassermündung verbracht. Großvater hatte ihm befohlen, meine Zweite Großmutter mit Zweite Mutter anzureden, und weil sie ihn immer behandelte, als sei er ihr eigener Sohn, fand er sie einfach großartig und hielt ihr einen Ehrenplatz in seinem Herzen frei. Wenn er sie besuchte, war es, als käme er nach Hause. Meine kleine Tante Xiangguan füllte die Luft mit honigsüßen Rufen nach ihrem «älteren Bruder». Die dunkelhäutige kleine Schwester war sein Liebling, und der feine, fast durchsichtige Flaum auf ihrem Gesicht faszinierte ihn. Am meisten liebte er ihre Augen, die glänzten wie Messingknöpfe. Aber immer, wenn sie auf dem Höhepunkt gemeinsamer Freude waren, schickte Großmutter irgend jemanden, der ihn nach Hause schleppte. Vater lag in den Armen des berittenen Boten auf seinem Maultier und blickte auf die kleine Tante Xingguan herab. Tränen standen in ihren leuchtenden Augen, und ihn überfiel schreckliche Trauer. Er fragte sich oft, warum Großmutter und Zweite Großmutter einander nicht ausstehen konnten.
    Vater dachte daran, wie er einmal ein totes Baby gewogen hatte. Das war vor ein paar Jahren gewesen. Großmutter hatte ihn ins Tal der Toten Säuglinge anderthalb Kilometer vor dem Dorf mitgenommen. Das war der Ort, wo man die toten Babys wegwarf. Es war in unserer Gegend nicht üblich, Kinder unter fünf zu begraben. Man ließ sie im Freien liegen, wo sich die Hunde an ihnen gütlich tun konnten. Damals hielt man noch die traditionellen Geburtssitten ein, und da die ärztliche Versorgung primitiv war, war auch die Säuglingssterblichkeit hoch. Nur die Kräftigsten überlebten.
    Manchmal beunruhigt mich das Gefühl, dass kultureller Verfall, wachsender Wohlstand und zunehmende Bequemlichkeit wohl eng miteinander verbunden sind. Wohlstand und bequemes Leben sind bewusst gewählte und zugleich natürlich vorherbestimmte Ziele menschlichen Strebens. So entsteht ein unausweichlicher, fundamentaler und erschreckender Widerspruch: Im Streben nach Wohlstand und Bequemlichkeit beraubt die Menschheit sich selbst einiger ihrer edelsten Eigenschaften.
    Damals, als Vater mit Großmutter ins Tal der Toten Säuglinge östlich vom Dorf ging, war sie besessen von der «Blumenlotterie». Sie dachte fast nur noch an den Hauptgewinn. Dieses Glücksspiel im Kleinformat, bei dem man weder sehr viel gewinnen noch allzu viel verlieren konnte, hatte die Herzen der Dorfbewohner, besonders der Frauen, erobert. Da Großvater ein solides, von Wohlstand geprägtes Leben führte, wählten die Dorfbewohner ihn zum Präsidenten der Spielgemeinschaft. Er verschloss Zettel mit zweiunddreißig Blumennamen in einem Bambusrohr und zog dann jeden Tag öffentlich zwei Gewinnlose, eins am Morgen, eins am Abend. Mal war es die Pfingstrose, ein andermal die Gartenrose, die chinesische Rose oder die Wildrose. Wessen Blume gezogen wurde, der gewann den dreißigfachen Einsatz. Das angesammelte Kapital wurde natürlich Großvater anvertraut. Die Frauen, deren Leben um die Blumenlotterie kreiste, bewiesen einen außerordentlichen Einfallsreichtum, wenn es darum ging, besondere Taktiken zu entwickeln, um den Namen der kommenden Ziehung zu erraten. Sie schütteten ihren kleinen Töchtern Schnaps in den Hals, um aus dem trunkenen Lallen die Wahrheit zu lesen, sie zwangen sich mit Gewalt zu ahnungsvollen Träumen, sie entwickelten komplizierte Pläne, die kaum zu beschreiben sind. Aber der Gang ins Tal der Toten Säuglinge entsprang allein Großmutters wildem Sinn für Schwarze Magie. Sie hatte die Namen von zweiunddreißig Blumen in den Balken einer Waage geritzt.
    In jener Nacht war es so dunkel, dass Vater die eigene Hand nicht vor den Augen sehen konnte. Großmutter weckte ihn mitten in der Nacht. Erschreckt fuhr er aus dem Tiefschlaf auf und hätte sie vor Wut am liebsten angeschrien. «Keinen Ton», flüsterte sie. «Komm mit. Wir gehen Blumen raten.» Neugierig, wie er auf alles Geheimnisumwitterte war, war er sofort hellwach und aufbruchsbereit. Schnell zogen sie Stiefel und Mützen an, schlichen sich auf Zehenspitzen an Großvater vorbei und schlüpften heimlich aus dem Hof und aus dem Dorf. Leise und vorsichtig suchten sie ihren Weg, und nicht einmal die Dorfhunde bemerkten sie. Großmutter hielt Vaters linke Hand, in der rechten trug er eine rote Papierlaterne. Sie hielt ihn mit der rechten Hand und trug in der linken ihren

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