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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Landstraße schüttelten den Wagen heftig, und das laute protestierende Quietschen der Räder klang nach Todesschreien. Großvater drehte sich um und ließ die Beine in den Wagen hängen. Obwohl es aussah, als habe die beschwerliche Fahrt Zweite Großmutter in den Schlummer gewiegt, waren ihre neblig grauen Augen noch immer geöffnet. Großvater hielt ihr den Finger unter die Nase und spürte ihren Atem. Er war schwach, aber noch spürbar, und das beruhigte ihn.
    Ringsum ein weites offenes Feld, ein Wagen des Leidens, der es durchquert, darüber ein Himmel so grenzenlos wie ein schwarzes Meer, flacher schwarzer Boden, so weit das Auge sieht, selten, wie eine treibende Insel, ein Dorf. Großvater hatte den Eindruck, die Welt bestünde aus verschiedenen Grüntönen.
    Die Deichselarme waren viel zu eng für unser großes Maultier, und die Speichenräder waren zu leicht. Sein Bauch war zwischen die Arme geklemmt, und es wollte davonrennen. Aber Onkel Luohan war Herr über die Trense, und es konnte in seinem stummen Protest nichts tun als die Vorderbeine hochwerfen, als wolle es tänzeln. Onkel Luohans Mund murmelte flüsternd Verwünschungen: «Verdammte Schweine ... verdammte unmenschliche Schweine ... haben die ganze Familie nebenan massakriert ... haben der Schwiegertochter den Bauch aufgeschlitzt ... der Embryo neben ihr auf dem Boden ... kaum mehr zu erkennen ... perverse Schweine ... das Baby sah aus wie eine gehäutete Ratte ... ein Haufen gelbe flüssige Scheiße ... verdammte Schweine ...»
    Vielleicht wusste er, dass Großvater seinen Flüchen lauschte, aber er sah sich nicht um. Er hielt die Zügel fest und hinderte das Maultier daran, sich zu wehren. Es wedelte ungeduldig mit dem Schwanz und schlug ihn geräuschvoll gegen das vordere Querholz. Das schwarze Maultier, das hinten am Wagen angebunden war, lief mit tief gebeugtem Kopf hinterher, aber niemand konnte sehen, ob sein langes Gesicht von Empörung, Wut, Scham oder bedingungsloser Kapitulation sprach.
     
     
6
     
    Vater erinnerte sich, dass der Maultierwagen mit der kaum mehr atmenden Zweiten Großmutter und der Leiche meiner kleinen Tante Xiangguan gegen Mittag unser Dorf erreichte. Ein starker Nordwestwind wirbelte auf den Straßen Staubwolken auf und raschelte im Laub der Bäume. In der trockenen Luft schälten sich seine Lippen. Als der Wagen mit einem vorgespannten Maultier und einem, das hinten angebunden war, im Dorf auftauchte, rannte Vater ihm flink wie der Wind entgegen. Onkel Luohan humpelte neben dem ächzenden und krächzenden Wagen her. Eine staubige, klebrige Schleimschicht saß den Maultieren so wie Großvater und Onkel Luohan in den Augenwinkeln wie Spatzendreck. Großvater saß auf der Seitenwand und hielt den Kopf in beiden Händen, wie eine Tonstatuette oder ein holzgeschnitztes Götterbild. Der Anblick verschlug Vater die Sprache. Als er noch zwanzig Meter von dem Wagen entfernt war, entdeckte seine scharfe Nase - oder eher eine Art von schicksalhaftem Geruchssinn - einen unheilverheissenden Duft, der von dem Wagen ausging. Erschreckt kehrte er um und lief nach Hause, um Großmutter, die unruhig auf und ab ging, zuzurufen: «Mutter, Vater ist wieder da, das Maultier zieht einen langen Wagen, hinten drin sind tote Leute, Vater sitzt auf dem Wagen, Onkel Luohan führt das Maultier, das andere Maultier läuft hinterher.»
    Großmutters Miene verriet ihr Entsetzen. Einen Augenblick stockte sie, dann lief sie hinter ihm her.
    Die Wagenräder kamen knarrend zum Stillstand und quietschten ein letztes Mal auf, als der Wagen genau am Tor stehenblieb. Großvater stieglangsam ab und starrte Großmutter aus blutunterlaufenen Augen an. Der Anblick jagte Vater Furcht ein. Großvaters Augen erinnerten ihn an die Katzenaugen am Ufer des Schwarzwasserflusses in ihren ständig wechselnden Farben.
    «Jetzt hast du, was du wolltest», zischte Großvater Großmutter an.
    Sie wagte nicht, sich zu verteidigen, und trat ängstlich näher zum Wagen. Vater stand dicht hinter ihr, als sie in den Wagen sah. Die Falten der Bettdecke waren mit schwarzer Erde gefüllt, in der sich klobig die Umrisse von etwas abzeichneten, das darunter lag. Sie hob eine Ecke der Decke auf und ließ sie wieder fallen, als habe sie sich die Finger verbrannt. Vater, der scharfe Augen hatte, konnte das zu Brei geschlagene Gesicht meiner Zweiten Großmutter und den starren offenen Mund meiner kleinen Tante sehen.
    Der offene Mund meiner kleinen Tante rief bei Vater viele schöne

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