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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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präparierten Waagebalken.
    Als sie das Dorf verließen, hörte Vater den Südostwind durchs Hirsefeld pfeifen und in den breiten grünen Blättern rascheln. In der Ferne roch er den Schwarzwasserfluß. Nachdem sie sich ein paar hundert Meter vorgetastet hatten, gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit, und er konnte die braune Straßenoberfläche von der hüfthohen Hirse am Straßenrand unterscheiden. Das Seufzen des Windes in den Getreidehalmen verstärkte das Geheimnis der dunklen Nacht, und der Ruf einer Eule im Baum legte eine rostfarbene Patina des Schreckens über das geheimnisvolle Dunkel der Nacht.
    Die kreischende Eule saß in einer Weide über dem Tal der Toten Säuglinge und stieß Rufe wohliger Zufriedenheit aus, nachdem sie sich den Magen mit dem Fleisch toter Babys vollgeschlagen hatte. Selbst als Großmutter und Vater schon ganz nah an dem Baum waren, stieß sie einen kreischenden Ruf nach dem anderen aus. Im Tageslicht hätten sie die blutroten Auswüchse am Stamm des Baumes gesehen, der mitten in einem sumpfigen Landstück stand. Das Kreischen der Eule ließ die nervöse Spannung, die in der Luft lag, erzittern, bis sie wie die dünne durchsichtige Membran in einem Schilfrohr schwang und mit dem Geräusch einer überspannten Bogensaite riss. Vater spürte, wie die grünen Augen der Eule ernst und feierlich unter den Weidenzweigen glühten. Bei jedem Schrei klapperten seine Zähne, und Kälteschauer stiegen von den Fußsohlen bis zur Schädeldecke auf. Er klammerte sich an Großmutters Hand und glaubte, der Schrecken, der sich in ihm aufbaute, werde seinen Kopf zerspringen lassen.
    Ein stickiger, fauler Geruch hing über dem Tal der Toten Säuglinge. Unter der Weide war es tiefdunkel, und das Zirpen der Herbstzikaden füllte Vaters Ohren. Schneeweiße Regentropfen so groß wie Messingmünzen fielen hie und da auf den Boden und schlugen helle Bahnen in die undurchdringliche Finsternis. Großmutter zupfte Vater an der Hand und gab ihm ein Zeichen, dass er niederknien sollte. Als er es tat, berührten seine Hände und Beine die Wildkräuter, die üppig im Marschland wuchsen. Blattspitzen so hart wie Nadeln bohrten sich in sein Kinn und versuchten, das Gleichgewicht seiner Seele zu zerstören. Tief im Rückgrat verspürte er durchdringende Kälte, als bohrten sich die Blicke zahlloser toter Säuglingsaugen in seinen Rücken. Er hörte Scharen von toten Babys strampeln, stampfen, um sich schlagen, krabbeln und lachen.
    Knisternd schlug Großmutter einen Feuerstein gegen ein Stück Stahl. Zarte rote Funken beleuchteten ihre zitternden Hände. Als der Zunder Feuer fing, blies sie in die Glut, und plötzlich begann sich ein schwacher Schimmer auszubreiten. Sie zündete die rote Kerze in der Papierlaterne an, und wie ein einsames Gespenst leuchtete das Licht auf. Der Schrei der Eule verstummte, und Scharen von toten Babys umringten Vater, Großmutter und die rote Papierlaterne.
    Während Großmutter das sumpfige Tal durchsuchte, flatterten Dutzende von Nachtfaltern ins trügerische Licht der roten Laterne in ihrer Hand. Wilde Kräuter und der weiche, nachgiebige Boden machten es ihr schwer, auf ihren gebundenen Füßen zu gehen. Die Abdrücke ihrer Fersen hinterließen im Schlamm kleine Wasserwirbel. Vater war neugierig, nach was sie wohl suchte, aber er wagte nicht zu fragen. Er folgte ihr stumm. Der Boden war übersät von winzigen gebrochenen und abgetrennten Gliedmaßen, die einen stechenden Geruch ausströmten.
    Unter einem Busch dickstämmiger, breitblättriger Kletten lag eine zusammengerollte Strohmatte. Großmutter ließ Vater die Laterne halten, legte den Waagebalken auf die Erde, beugte sich vor und hob die Matte auf. Im roten Laternenlicht glichen ihre Finger sich windenden rosa Würmern. Die Matte öffnete sich und gab einen toten, in Lumpen gewickelten Säugling frei. Der kahle Schädel sah aus wie ein glänzender Kürbis. Vater zitterten die Knie. Großmutter hob den Waagebalken auf und hängte die Lumpen an einem Ende ein. Dann hielt sie die Waage mit einer Hand hoch und bewegte mit der anderen das Gewicht. Geräuschvoll zerriss der Lumpen, und das Baby fiel zu Boden. Das Gesicht landete auf Großmutters Zehen, und der Waagebalken schlug Vater ins Gesicht. Er schrie vor Schmerz auf und hätte beinahe die Laterne fallen gelassen. Die Eule stieß einen bösartigen, lachenden Schrei aus, als spotte sie über die Ungeschicklichkeit der beiden Menschen. Großmutter hob den Waagebalken auf und

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