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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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rammte mit einem wütenden Ruck den Haken in das Fleisch des Säuglings. Das Geräusch jagte Vater so große Furcht ein, dass er eine Gänsehaut bekam. Er sah weg, und als er wieder hinsah, bewegte Großmutter das Gewicht am Waagebalken hin und her, Einkerbung um Einkerbung, höher und wieder tiefer, bis die Waage vollkommen ausbalanciert war. Sie gab Vater ein Zeichen, die Laterne näher zu halten. Der Waagebalken glühte rot. Da war das Zeichen: «Pfingstrose».
    Noch als sie kurz vor dem Dorf waren, konnte Vater den zornigen Schrei der Eule hören.
    Siegesgewiss setzte Großmutter ihr Geld auf «Pfingstrose»».
    Der Sieger des Tages war «Winterpflaume».
    Großmutter wurde ernstlich krank.
    Als Vater auf den offenstehenden Mund meiner kleinen Tante Xiangguan sah, erinnerte er sich, dass auch der Mund des toten Säuglings offengestanden hatte. In seinen Ohren erklang das Lied der Eule, einmal verstört, einmal fröhlich, und zu seinem eigenen Erstaunen verspürten seine Muskeln Sehnsucht nach der feuchten Luft über dem Marschland. Der trockene Nordwestwind, der Staub zum Himmel aufwirbelte und sein Herz verwirrte, trocknete seine Lippen und seine Zunge aus.
    Vater sah Großvaters Blick, der dunkel und bösartig auf Großmutter ruhte, wie der Blick eines alten Raubvogels, der sich gleich auf sie stürzen und sie verschlingen würde. Ihr Rücken krümmte sich unversehens, und sie beugte sich über den Wagen. Ihr Gesicht war von Tränen und Rotz bedeckt, und sie schlug klagend auf die Bettdecke: «Meine süße Kleine ... Xiangguan ... mein Kind ...»
    Angesichts so großen Leids schmolz Großvaters Zorn. Onkel Luohan trat neben sie und sagte leise: «Herrin, weine nicht. Bringen wir sie ins Haus.»»
    Schluchzend zog Großmutter die Decken zurück, beugte sich über den Wagen, nahm Tante Xiangguans Leiche auf den Arm und trug sie ins Haus. Großvater folgte ihr mit Zweiter Großmutter.
    Vater blieb draußen auf der Straße und sah zu, wie Onkel Luohan das Maultier ausspannte - seine Flanken waren von den engen Deichselarmen wund gerieben - und dann das andere Maultier vom hinteren Wagenteil losband. Sie rollten sich im weichen Staub, um sich Erleichterung zu verschaffen. Einmal streckten sie den Bauch in die Luft, das andere Mal rieben sie ihn am Boden. Dann standen sie auf und schüttelten sich heftig. Staubwolken stiegen in die Luft. Onkel Luohan führte die Maultiere ins östliche Gehöft. Vater folgte ihm. «Geh nach Hause, Douguan»», sagte Onkel Luohan, «geh nach Hause.»»
    Großmutter hockte auf dem Boden und stocherte das Feuer im Herd an. Auf dem Herd stand ein halbvoller Wasserkessel. Sobald sich Vater ins Zimmer schlich, sah er Zweite Großmutter, die mit offenen Augen und unaufhörlich zuckenden Wangen auf der Bettstatt lag. Er sah auch die kleine Tante Xiangguan, die am Kopfende des Bettes lag. Ein rotes Tuch verhüllte ihr grauenhaft verzerrtes Gesicht. Wieder musste er an die Nacht denken, in der er mit Großmutter ins Tal der Toten Säuglinge gegangen war, um ein totes Baby zu wiegen. Das Schreien der Maultiere im Osthof glich auf unglaubliche Weise dem Ruf der Eule. Fauliger Todesgeruch füllte seine Nase, und er dachte an Xiangguan, die bald im Tal der Toten Säuglinge liegen und von Eulen und wildernden Hunden gefressen werden würde. Er hatte nie gedacht, dass die Toten so abstoßend aussahen, und das abscheuliche Gesicht der toten Xiangguan unter dem roten Tuch übte einen so starken Reiz auf ihn aus, dass er sich kaum davon zurückhalten konnte, das Tuch aufzuheben und sie anzusehen.
    Großmutter kam mit einem Messingbecken voll heißem Wasser ins Zimmer und stellte es neben das Bett. Sie stieß Vater an und sagte: «Geh raus!»
    Zögernd und verwirrt ging er ins vordere Zimmer und hörte, wie sich die Tür hinter ihm schloss. Neugierig spähte er durch einen Türspalt, um zu sehen, was drinnen geschah. Großvater und Großmutter knieten neben dem Bett und zogen Zweite Großmutter aus. Als sie ihre Kleider auf den Boden warfen, landeten ihre durchnässten Unterhosen mit einem lauten Plumpsen. Ekelerregender Blutgestank drang in Vaters Nase. Zweite Großmutter schlug schwach mit den Armen um sich, und grässliche Geräusche drangen aus ihrer Kehle. In Vaters Ohren klangen sie wie die Schreie der Eule im Tal der Toten Säuglinge.
    «Halt ihre Arme fest», sagte Großmutter beschwörend. Großmutters und Großvaters Gesichter verschwanden im Dampf, der aus dem Becken aufstieg.
    Großmutter zog

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