Das Rote Kornfeld
spiegelte sich in der fliegenden Schale. Sie segelte über den Dachbalken und zog zwei Spinnenfäden mit sich, bevor sie zu Boden fiel, hochsprang, einen Halbkreis beschrieb und schließlich mit der Öffnung nach unten liegenblieb. Großmutter griff nach einer zweiten Essschale und warf sie. Diesmal traf sie die Wand, und die Schale zerbrach in zwei Stücke. Urgroßvater war so entsetzt und verblüfft, dass ihm der Mund offen stehenblieb. Mit zitternden Schläfenhaaren stand er sprachlos da. «Tochter», rief Urgroßmutter aus, «endlich hast du etwas gegessen!»
Nachdem sie die Schalen zertrümmert hatte, brach Großmutter endlich zusammen und weinte. Der nasse, liebliche, gefühlsgeladene Klang ihres Weinens war so stark, dass das Zimmer ihn nicht halten konnte. Er drang hinaus, breitete sich über die Felder aus und verschmolz mit dem Rauschen der sprießenden Hirse im Spätsommer. Unzählige Gedanken schossen unter dem langgezogenen Ton ihres klaren, gequälten Weinens durch ihren Kopf. Immer wieder rief sie sich alles ins Gedächtnis zurück, was in den drei Tagen geschehen war, seit man sie in die Brautsänfte gesetzt hatte, bis sie auf dem Rücken des Esels nach Hause zurückgekehrt war. All die Bilder dieser drei Tage, all die Klänge, all die Gerüche kamen wieder: die Flöten und Trompeten, die kleinen Melodien, die großen Geräusche, das Schmettern, die Blasinstrumente, der Gesang. Die grüne Hirse wurde rot davon. Der Klang ließ unter Trommelwirbeln einen Vorhang von Regen vom Himmel fallen. Zwei Donnerschläge, Blitz, Regenfäden dicht wie der Flachs auf den Feldern. Ihr Herz verwirrte sich mit den Flachsstauden, auf die der Regen fiel, schräg von der Seite, senkrecht von oben und steil aufwärts.
Großmutter dachte an den Straßenräuber im Krötenloch und an die Heldentaten des jungen Sänftenträgers. Er war der Leithund, der Anführer des Rudels. Er konnte nicht älter als vierundzwanzig sein. Sein windgegerbtes Gesicht war frei von Runzeln. Sie erinnerte sich, wie nah ihr sein Gesicht kurze Zeit gewesen war und wie sich seine Lippen hart wie Muschelschalen auf die ihren gepresst hatten. Ihr Blut war einen Augenblick zu Eis erstarrt, bevor es sich in heißem Schwall durch jede Ader des Körpers ergoss. Ihre Füße hatten sich verkrampft, die Beckenmuskeln waren in wilde Zuckungen geraten. Das federnde Vibrieren der Hirse hatte den rebellischen Ruf ihres Blutes aufgenommen. Der dünne, kaum sichtbare Staub über den Halmen hatte sich über ihr und dem jungen Sänftenträger in der Luft verbreitet.
Großmutter versuchte, sich auf die jugendliche Leidenschaft dieses einen Augenblicks zu konzentrieren, um sie festzuhalten. Aber sie entglitt ihr, war von einem Moment zum nächsten verschwunden. Immer wieder tauchte vor ihrem Blick das Bild des anderen Mannes auf, sein Gesicht faulig wie eine lang vergrabene Weintraube, seine Finger zu Haken und Klauen gebogen. Dann war da noch der alte Mann mit dem winzigen Zopf und dem bronzenen Schlüsselbund am Gürtel. Großmutter saß reglos da, und meilenweit von dem Ort des Geschehens entfernt, konnte ihre Zunge den vollmundigen Geschmack des Hirsebrands und die Säure der Maische riechen. Sie erinnerte sich an die zwei Dienstboten, die wie betrunkene Gänse an einem Schnapsfass rochen und aus jeder Pore Alkoholschwaden ausschwitzten ... Er aber bahnte sich mit seinem messerscharfen Kurzschwert einen Pfad durch die Hirse. Die Klinge war feucht von kleinen hufeisenförmigen Flecken tintengrünen Safts, dem Lebensblut der abgeschlagenen Pflanzen. Sie erinnerte sich an das, was er gesagt hatte: «Egal, was geschieht, komm in drei Tagen wieder!»» Lichtstrahlen waren wie Messer aus seinen länglichen zusammengekniffenen Augen geschossen.
Großmutter überfiel eine Vorahnung, dass ihr Leben sich in außerordentlicher und gewaltiger Weise verändern sollte.
In einem ganz tiefen Sinn werden Helden als Helden geboren und nicht zu Helden gemacht. Die Voraussetzung, ein Held zu werden, fließt wie ein unterirdischer Strom in einem Menschen, und wenn sie auf den richtigen äußeren Anreiz trifft, manifestiert sie sich in heroischem Handeln. Die ersten sechzehn Jahre ihres Lebens hatte Großmutter wie all ihre Freundinnen in der Nachbarschaft mit Sticken, Nähen, Scherenschnitten, Fußbinden, Haarkämmen und allerlei sonstigen weiblichen Beschäftigungen verbracht. Woher kamen ihr als Erwachsener die Fähigkeiten und der Mut, mit dem sie ihr Schicksal meisterte? Wie
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