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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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um den berühmten Richter Cao handelte. Neben dem Tisch stand ein zweiter Mann. Damals wusste sie noch nicht, dass es sich um den tüchtigen Gehilfen des Richters, Meister Yan Luogu, handelte. Die Dorfbewohner, die man zusammengetrieben hatte, standen eng nebeneinander vor dem Tisch, als wollten sie sich gegenseitig wärmen. Dahinter war ein Trupp von etwa zwanzig Soldaten aufmarschiert.
    Daneben stand vor einem zweiten Tisch schweißgebadet Onkel Luohan.
    Die Leichen Shan Tingxius und seines Sohnes waren unter der Weide aufgebahrt, nicht weit von der Stelle, an der das Jungpferd angebunden war. Sie hatten schon angefangen zu stinken und gaben eine faulig gelbe Flüssigkeit frei. Auf den Zweigen darüber tummelte sich ein Krähenschwarm und verwandelte die Baumkrone in einen brodelnden Hexenkessel.
    Endlich konnte Onkel Luohan einen Blick auf Großmutters volles rundes Gesicht werfen. Sie hatte große mandelförmige Augen, einen langen alabasterfarbenen Hals und trug das üppige Haar auf dem Hinterkopf zu einem Knoten zusammengesteckt. Der Esel blieb vor dem Tisch stehen, und Großmutter saß voll Anmut und Eleganz aufrecht auf seinem Rücken. Onkel Luohan sah, wie Richter Caos dunkle ernste Augen über Großmutters Gesicht und Brust schweiften, und wie ein Blitz überfiel ihn der Gedanke : Diese Frau trifft die Schuld am Tod des alten Herrn und seines Sohnes! Sie musste einen Liebhaber gefunden haben, und der hatte das Feuer gelegt, um den Tiger aus der Höhle zu locken, und dann hatte er Vater und Sohn getötet, um den Weg für sich selbst frei zu machen. Wenn die Rüben geerntet sind, ist das Feld leer; und jetzt konnte sie tun, was sie wollte ...
    Als er sie aber näher ansah, überkamen ihn Zweifel. Wie gut sich ein Mörder auch zu verstellen weiß, der Anschein des Bösen lässt sich nicht ganz verbergen. Aber diese Frau, die da auf dem Esel saß? Sie glich einer wunderschönen Wachspuppe. Leicht schwangen ihre zarten, kleinen Füße hin und her, und der Ausdruck auf ihrem Gesicht war eine Mischung von feierlichem Ernst, Ruhe und Leid. Sie war kein Engel und doch schöner als jeder Engel. Ganz anders mein Urgroßvater neben seinem Esel: Wo sie ruhig war, war er bewegt, wo sie jung war, alt, wo sie frisch war, ausgemergelt. Sein Anblick unterstrich nur ihren Jugendglanz.
    «Die Frau soll absteigen und meine Fragen beantworten», befahl Richter Cao.
    Großmutter blieb reglos sitzen. Dorfvorsteher Shan Wuhou rappelte sich auf und rief zornig: «Steig ab! Seine Ehren der Richter hat dir befohlen abzusteigen.»
    Mit einer Handbewegung hielt Richter Cao den Dorfvorsteher zurück und sagte mit freundlicher Stimme: «Du da, steig ab! Ich will dir ein paar Fragen stellen.»»
    Urgroßvater hob Großmutter vom Esel.
    «Wie heißt du?» fragte Richter Cao.
    Großmutter stand mit gesenkten Augenlidern vor ihm und schwieg.
    An ihrer Stelle antwortete mit zitternder Stimme mein Urgroßvater : «Euer Ehren, der Name meiner unwürdigen Tochter ist Dai Fenglian. Wir nennen sie die kleine Neun, weil sie am neunten Tag des sechsten Monats zur Welt gekommen ist.»
    «Halt den Mund!» sagte Richter Cao barsch.
    «Wer hat dir denn erlaubt zu reden?» fragte Dorfvorsteher Shan Wuhou meinen Urgroßvater in strafendem Ton.
    «Verdammte Idioten!» Richter Cao schlug mit der Faust auf den Tisch, und Dorfvorsteher Shan Wuhou und Urgroßvater schraken zusammen. Dann nahm das Gesicht des Richters wieder einen wohlwollenden Ausdruck an. Er zeigte auf die beiden Leichen unter dem Weidenbaum und fragte: «Du da, Frau! Kennst du die beiden Männer?»»
    Großmutter warf einen vorsichtigen Blick aus den Augenwinkeln auf die Leichen und wurde blass. Wortlos schüttelte sie den Kopf.
    «Das sind dein Mann und dein Schwiegervater. Sie sind ermordet worden!» brüllte Richter Cao drohend.
    Großmutter schwankte ein-, zweimal und brach zusammen. Die Menge stürzte vor, um ihr aufzuhelfen. Im Gewirr verlor sie ihre silbernen Kämme, und Wolken schwarzen Haars ergossen sich wie ein Wasserfall um ihren Kopf. Ihr Gesicht nahm die Farbe reinen Goldes an, und sie stieß ein paar Seufzer aus. Dann begann sie hysterisch zu lachen. Von ihrer Unterlippe tröpfelte Blut.
    Richter Cao schlug noch einmal mit der Faust auf den Tisch und verkündete dann: «Merkt alle auf und hört den Urteilsspruch des Richters! Als diese Frau aus der Familie Dai, eine zarte Weide, die der Wind beugt, eine großmütige und aufrechte Frau, weder niedrigen Sinnes noch hochmütig,

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