Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
Vom Netzwerk:
jetzt, wo du Bezirksrichter bist, tust du, als kenntest du mich nicht ...»
    «Die Frau ist von Sinnen. Sie verwechselt mich mit jemand anderem.»
    «Ich täusche mich nicht! Sicher nicht, Väterchen, mein wahrer Vater!» Großmutter klammerte sich an Richter Caos Knie und wiegte sich hin und her. Glitzernde Tränen rannen über ihr Gesicht, die Sonne spiegelte sich in ihren blütenweißen Zähnen.
    Bezirksrichter Cao hob Großmutter zu sich empor und sagte: «Ich kann ja dein Pflegevater sein.»
    «Mein wahrer Vater!» Großmutter versuchte, erneut auf die Knie zu fallen, aber Richter Cao hielt sie an den Armen fest. Sie drückte seine Hand und sagte in kindlicher Unschuld: «Väterchen, wann nimmst du mich mit zu Mutter?»»
    «Bald! Jetzt gleich! Aber lass mich schon los, lass los ...»
    Großmutter gab seine Hand frei.
    Richter Cao zog ein Tuch aus dem Gürtel und wischte sich die schweißüberströmte Stirn ab.
    Alles starrte Richter Cao und Großmutter verwundert und neugierig an.
    Cao Mengjiu zog den Hut und drehte ihn nervös zwischen den Fingern. Die Zuschauer ansehend, stammelte er: «Mitbürger ... Mitbürger ... ich habe mich immer dafür eingesetzt ... Opium ausrotten... Glücksspiel verbieten ... Banditen vernichten ...»
    Kaum hatte er geendet, da hörte man - peng! peng! peng! - drei Schüsse. Drei Kugeln kamen aus dem Hirsefeld neben der Bucht geflogen, und drei dünne Rauchfäden stiegen von dem braunen Hut auf, der auf dem Mittelfinger des Richters tanzte. Wie von einem Dämon besessen, rauschte der Hut durch die Luft und blieb, noch immer kreiselnd, im Staub vor seinem Besitzer liegen.
    Überraschungsschreie und Pfiffe aus der Menge waren die Antwort auf die Schüsse. «Es ist Blatternacken!» rief der eine, «Der Phönix hat dreimal genickt»», der andere.
    Richter Cao hatte sich unter dem Tisch versteckt und rief: «Ruhe! Bewahrt die Ruhe!»
    Die Menschen schrien nach Vater und Mutter und rannten heulend wie wilde Tiere auseinander.
    Der kleine Yan band schnell den Hengst vom Weidenbaum los, zerrte Richter Cao unter dem Tisch hervor, half ihm in den Sattel und versetzte dem Pferd mit seinem Schuh einen Schlag auf den Rumpf. Mit gesträubter Mähne und gehobenem Schweif schoss das Tier, den Bezirksrichter im Sattel, wie der Wind davon, und die Soldaten gaben auf gut Glück ein paar Schüsse ins Hirsefeld ab, bevor sie hinter Richter Caos Pferd herrannten.
    Eine seltsame Stille lag über den Ufern der Bucht.
    Mit ernster Miene ließ Großmutter die Hand auf dem Kopf des Esels ruhen und starrte auf den Punkt, von wo die Schüsse erklungen waren. Urgroßvater hatte sich unter dem Bauch des Esels auf den Boden fallen lassen, hielt die Hände über die Ohren gepresst und bewegte nicht einen Muskel. Dampf stieg von Onkel Luohans Kleidern auf. Er stand noch immer an derselben Stelle.
    Das Wasser in der Bucht war glatt und ruhig wie ein Spiegel. Die Blüten der weißen Lilien, die darauf trieben, öffneten sich elfenbeinhell.
    Dorfvorsteher Shan Wuhou, dessen Gesicht von Schlägen braun und blau war, schrie mit schriller Stimme: «Lasst mich los! Lasst mich los! Blatternacken, steh mir bei!»
    Großmutter sah, wie drei Kugeln den Kopf des Dorfvorstehers trafen. Drei Haarbüschel sträubten sich mit dem Klang der Schüsse, und Shan Wuhou fiel mit offenem Mund zu Boden. Aus seinem Hinterkopf quoll eine klebrige gesprenkelte Flüssigkeit.
    Großmutter verzog keine Miene. Sie blickte auf das Hirsefeld, als erwarte sie etwas. Eine leichte Brise zog über die Bucht, kräuselte die Oberfläche, ließ die Lilien erzittern und die Lichtstrahlen sich über dem Wasser brechen. Die Hälfte der Krähen hatte sich auf den Leichen Shan Tingxius und seines Sohnes niedergelassen; die andere Hälfte saß auf den Weidenzweigen und erhob ein Geschrei. Ihre Schwanzfedern sträubten sich im leichten Luftzug wie Fächer, und die rauhe dunkelgrüne Haut ihrer Hintern wurde sichtbar.
    Aus dem Hirsefeld tauchte ein großer, kräftig gebauter Mann auf und schritt am Ufer entlang. Er trug einen Regenumhang, der ihm bis zu den Knien reichte, und einen kegelförmigen Hut aus Hirsestroh, der mit gelbem Öl überzogen war. Das Hutband bestand aus smaragdgrünen Glasperlen. Ein Tuch aus schwarzer Seide umspannte seinen Hals. Er trat zur Leiche Shan Wuhous und blickte auf sie herab. Dann ging er zu Richter Caos Hut, hob ihn auf, ließ ihn auf dem Lauf seiner Pistole kreisen und schleuderte ihn in die Luft. In hohem Bogen flog er in die

Weitere Kostenlose Bücher