Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)
sie sich, hinzusehen. Es war ein Hündchen, ein wenige Wochen alter Welpe.
«Töte es.» Die Stimme der Priesterin war beschwörend. «Töte es.»
Der Helfer griff das Hündchen am Kopf und bog ihn nach hinten. Aufmunternd nickte er Annette zu. Die durchtrennte mit einem schnellen Schnitt die Kehle und ließ das Blut in die Schale auf dem Altar laufen. Der Welpe zuckte noch ein paarmal, dann war er tot.
Als der Blutstrom nachließ, bot Annette die Schale der Priesterin an. Diese deutete eine Verbeugung an, nahm sie und gab sie dann Annette zurück. «Das Blut deines ersten Opfers gehört dir.» Und Annette trank einen tiefen Schluck, bevor sie die Schale der Priesterin zurückgab. Ein anderer Mann in einer Robe, dessen Gesicht ebenfalls unter einer Kapuze versteckt war, griff den Dolch und öffnete den Brustkorb des Tieres. Triumphierend hielt er das winzige Herz in der Hand und reichte es dem Mädchen. Annette schluckte es ohne mit der Wimper zu zucken im Ganzen hinunter.
Lina lehnte sich auf ihrer Kiste an die Wand. Was für schreckliche Dinge geschahen da?
Die Liturgie nahm ihren Verlauf. Wie in der Verhöhnung der katholischen Kommunion zogen die Mitglieder der grausigen Gemeinde an der Priesterin vorbei, jeder steckte seinen Finger kurz in die Schale mit dem Blut und leckte ihn dann ab.
Mit Erschrecken stellte Lina fest, wie viele von ihnen sie kannte oder doch zumindest schon einmal gesehen hatte. Da waren Arbeiter, an der Kleidung erkannte sie auch ein paar Wallonen. Aber dann entdeckte sie den einen oder anderen Handwerker, mit dem sie schon zu tun gehabt hatte, den Fleischer, bei dem sie schon einmal gekauft hatte, und den Wirt eines Altstadtlokals und seine Frau. Dann die gesamte Familie von Müller und – sie mochte es kaum glauben – die junge Frau Erbling. Ihren Mann, den Doktor, konnte sie nicht entdecken. Alle Dienstboten der Wienholds waren da und noch ein paar andere, von denen einige Lina bekannt vorkamen, sie konnte sich jedoch nicht erinnern, woher.
Die gruselige Prozession hatte nun ein Ende, nacheinander gingen alle hinaus. Schließlich waren nur noch die Robenträger, Annette und ihre Mutter da.
«Ich bin ja so stolz auf dich», sagte Jutta und umarmte ihre Tochter. «Gehen wir hinauf?», fragte sie in die Runde.
«Ja, lass uns gehen. Ich könnte noch einen Schluck vertragen.»
Lina zuckte zusammen. Das war Reppenhagens Stimme. Die Stimme, die immer so unfreundlich zu ihr gewesen war. Die Priesterin war fort.
Lina wusste, solange auch nur ein Mensch hier unten war, hatte sie keine Chance, unentdeckt herauszukommen. Das Ganze schien sich nun schon Stunden hinzuziehen, oder kam es ihr nur so vor? Plötzlich fiel ihr Anno wieder ein. Wo war der Junge nur?
Der Raum hatte sich geleert. Lina war ganz elend von den schrecklichen Dingen, die sie gesehen hatte. Eine Weile hockte sie auf der Kiste, obwohl sie wusste, dass sie Schwierigkeiten haben würde, wieder aufzustehen. Schließlich rappelte sie sich auf. Langsam tastete sie sich vorwärts, bis ihr die Kerze in ihrer Rocktasche wieder einfiel. Sie zündete sie an.
Sie ging zunächst in die falsche Richtung und fand sich in dem Zeremonienraum wieder, drehte aber gleich um. Nun wusste sie, wie sie gehen musste. Dort, wo der ursprüngliche Gang sich verzweigte, fand sie zurück zu dem Raum unter der Falltür. Aber da gab es keine Leiter mehr, und die Falltür war zu.
Lina lehnte sich an die Wand und begann zu weinen, aus Verzweiflung, aber auch aus Wut über ihre Neugier. Die Dinge, die sie gesehen hatte, hätte sie gern wieder aus ihrem Gedächtnis getilgt. Und immer schoben sich die Bilder der beiden getöteten Mädchen davor. Hatten sie auf diesem Altar da unten gelegen? War das Kind der Älteren auf dieselbe Weise getötet worden wie der Welpe?
Nach einer Weile versiegten die Tränen. Sie musste hier heraus. Denk nach, Lina, denk nach , befahl sie sich. Immerhin war sie so klug gewesen, die Kerze auszublasen. Jetzt entzündete sie sie wieder. Dies waren die Schmugglergänge. Sie waren alt, doch dieser Teil hier war noch gut erhalten, wie sie gesehen hatte. Vielleicht waren es die anderen Teile auch.
Sie fand zurück zu der Gabelung und nahm den anderen Gang. Er verlief schnurgerade und fiel dann etwas ab. Ein paar Meter weiter zweigte ein weiterer Gang ab, aber Lina beschloss, zuerst die gerade Strecke zu versuchen. Sie schien endlos, doch schließlich gelangte sie zu einem verrosteten alten Eisentor, das mit dicken Schlössern
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