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Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)

Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)

Titel: Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Kaffke
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Nachthemd, das musste er sein.
    Vorne auf dem Podest stand ein Mann in einer merkwürdigen dunklen Robe, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, und murmelte Unverständliches. Dann und wann erhob er die Stimme etwas, und die Menge antwortete. Auf einmal kam Bewegung in die Leute. Von irgendwo außerhalb Linas beengtem Blickfeld bahnte sich jemand einen Weg. Auch er trug eine Robe, sie war jedoch bunt bestickt. Es gab sogar kleine Edelsteine und Goldfäden, die im Schein der Kerzen und Öllampen funkelten. Lange Haare fielen ihm bis über die Schultern. Der Mann stieg auf das Podest und drehte sich um. Reppenhagen. Er hob die Arme. «Ruhe», sagte er laut, aber ohne zu schreien. Augenblicklich wurde es still.
    «Ich bin zu euch gekommen in eure kleine aufstrebende Gemeinde, um eine Weile bei euch zu sein und euch anzuleiten und zu lehren. Viele sind hier, die ihrer Weisheit bedürfen.»
    Er betonte das Wort «ihrer» so unnatürlich, dass Lina eine Gänsehaut bekam. Kein Wunder in diesem kalten Gewölbe, dachte sie. Draußen begannen die Menschen plötzlich, rhythmisch mit den Füßen zu stampfen. Von überall her drang großer Lärm. Lina fragte sich, wie tief unter der Stadt sie sich wohl befanden und ob man diesen Lärm vielleicht oben hören konnte.
    Reppenhagen stand still da, die Augen geschlossen, die Arme leicht vom Körper weggestreckt, die Hände offen. Es schien, als badete er in den Geräuschen. Eine ganze Weile verstrich, dann hob er die Arme langsam nach oben, die Augen immer noch geschlossen, und die Menge verstummte. Die tiefe Stille war noch unheimlicher als das Gestampfe. Er nahm die Arme vor das Gesicht und ließ sie dann ganz langsam heruntergleiten.
    Linas Herz klopfte bis zum Hals. Als die Hände das Gesicht freigaben, waren seine Augen geöffnet, aber sie schienen Lina ganz fremd. Auch das Gesicht schien ein anderes zu sein. Es waren noch Reppenhagens Züge, da waren auch noch seine Narben, aber es war ein fremdes, weicheres Gesicht. Ein weibliches Gesicht. «Ich bin da, meine Kinder», sagte eine Stimme, die sie nie aus Reppenhagens Mund vernommen hatte. Die Stimme einer Frau. Vor ihren Augen hatte sich der Maler in eine Frau verwandelt, deren strahlende Schönheit fast überirdisch schien.
    Lina fühlte sich benommen. Sie sah zu, wie dieses fremde Wesen da vorn mit einer fremdartigen, düsteren Liturgie begann. Die Stimme hatte einen ausländischen Akzent, italienisch oder vielleicht spanisch. Lina war wie gebannt, sie konnte nicht aufhören, das Wesen anzustarren. Jede einzelne Narbe hatte sie schon im Gesicht des Malers gesehen, seine langen Haare, die Form seiner Augen. Und doch war das da drüben nicht Reppenhagen, und das ließ sie wieder und wieder schaudern. Und dann kam ein Moment, als sie plötzlich das Gefühl hatte, die Priesterin sähe ihr direkt in die Augen. Ihr Herz blieb fast stehen, sie wagte kaum zu atmen und zwang sich endlich, den Blick von der Frau zu nehmen. Die Angst vor Entdeckung in ihr wurde stärker. Hatte sie ihre Anwesenheit gespürt, hier hinter der Mauer?
    Das fremdartige Ritual nahm seinen Fortgang, Lina verstand nur wenig, denn vieles war offensichtlich in lateinischer Sprache, die die Priesterin in der singenden Melodie der Italiener vortrug.
    «Dies ist ein besonderer Abend», sagte die Priesterin auf Deutsch. «Heute wird eine unserer größten Hoffnungen zum ersten Mal ein Ritual durchführen. Liebes, komm zu mir. Komm zu Mariana.»
    Hinten, wo Lina Anno gesehen hatte, löste sich eine kleine Gestalt aus der Menge. Ehrfurchtsvoll machten die Anwesenden ihr Platz.
    Anno , dachte Lina. Aber es war nicht Anno, es war eindeutig Annette. Auch sie trug ein weißes Nachthemd. Langsam, fast wie betäubt, stieg sie zu der Priesterin hinauf. Auf dem Podest hatte Lina kurz den Eindruck, als würde die Kleine schwanken oder flüchten wollen.
    «Sieh mich an», sagte Priesterin zu dem Kind. Das Kind sah zu ihr auf und nickte.
    «Bringt das Opfer!», befahl die Priesterin.
    Jemand in einer Robe brachte ein kleines, zappelndes Bündel. Die Priesterin reichte Annette einen kleinen Dolch, den sie zuvor in der Zeremonie geweiht hatte. Lina hielt den Atem an. So vieles wurde ihr auf einmal klar. War es das hier, was sie mit den Säuglingen machten?
    Annette ging auf den Altar zu, das Messer in der Hand. Das Bündel zappelte immer noch. Der Mann in der Robe öffnete es. Für einen Moment schloss Lina die Augen. Sie wollte einfach nicht wissen, was da zappelte. Doch dann zwang

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