Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)
ohne festen Umschlag, fand Lina auf dem Boden neben dem Bett.
Wo war Anno? Vielleicht war ja doch ein Bewacher mit ihm an die frische Luft gegangen, hoffte Lina und schlich sich wieder hinaus. Sie würde es zu einem anderen Zeitpunkt noch einmal versuchen.
Lina war schon fast eine Woche bei den Wienholds und hatte bereits drei Kleider fertig, die weit anspruchsvoller waren als ihre bisherigen Arbeiten. Ein weiteres, ein aufwendiges, sehr elegantes Nachmittagskleid bereitete ihr Kopfzerbrechen. Sie hatte den Entwurf aus der Zeitschrift überarbeitet, aber nun erschien es ihr nicht mehr harmonisch. Sie hockte an dem kleinen Schreibtisch in ihrem Zimmer unter einer hellen Studierlampe und versuchte, ihre Skizzen zu verbessern. Das lose zusammengeheftete Kleid lag über dem Stuhl, und immer wieder betrachtete sie es skeptisch.
Die große Uhr im Salon nebenan schlug bereits halb zwölf, das Öl in der Lampe musste bald zur Neige gehen. Der Schlummertrunk, warme Milch, den man ihr jeden Abend servierte, war inzwischen kalt und hatte eine hässliche Haut.
Plötzlich hörte Lina im oberen Stockwerk ein Poltern. Das musste Anno sein, dachte sie sich. Sein Zimmer lag beinah über ihrem. Vielleicht konnte sie den Jungen jetzt sprechen. Sie war froh, dass sie Kleid und Schuhe noch nicht ausgezogen hatte.
Die Lampe nahm sie nicht mit, sie wollte kein Aufsehen erregen. Die Flure des Wienhold’schen Hauses waren ohnehin die ganze Nacht über schwach beleuchtet.
Vorsichtig sah sie sich um, ob sie wirklich allein war. Dann stieg sie die Treppe hinauf, ganz langsam, damit sie niemand hören konnte. Aber auch diesmal war der Raum leer. Hatten sie den Jungen doch endgültig weggebracht?
Plötzlich erwachte das Haus, das gerade noch in tiefem Schlaf gelegen zu haben schien. Ohne nachzudenken schlüpfte Lina in Annos Zimmer und zog die Tür bis auf einen Spalt zu. Von ganz oben hörte Lina die Dienstboten ihre Treppe herunterkommen, die gleich neben Annos Zimmer auf den Flur mündete. Und auch die Gäste sammelten sich an der Treppe nach unten und stiegen hinab.
Lina kam es vor wie eine Prozession. Es überlief sie kalt. Und dann sah sie Anno in einem langen weißen Nachthemd. Er wartete, bis alle hinuntergegangen waren, und schlich dann hinterher.
Linas Herz klopfte. Man hatte sie nicht entdeckt. Doch was sollte sie jetzt tun? Zurück in ihr Zimmer gehen und versuchen zu schlafen?
Nein, sie musste wissen, was da los war. Langsam ging sie hinter Anno die Treppe hinunter. Der Junge bemerkte sie nicht, die anderen waren längst irgendwo im Haus verschwunden.
Unten in der Halle war Anno plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Von den Wienholds und ihren Gästen entdeckte sie auch keine Spur. Aber dann zuckte Lina zurück und schlüpfte schnell hinter die nächste Ecke: An der Tür stand der Hausdiener der Familie und ließ noch weitere Gäste ein. Sie schienen sich auszukennen im Haus, bogen gleich links ab, wo es zur Küche ging. Schließlich machte sich auch der Hausdiener auf den Weg, und Lina folgte ihm in einigem Abstand. Es fiel ihr schwer, beim Gehen möglichst wenig Geräusche zu machen, doch als sie zur Küche kam, wurde ihr klar, dass niemand sie hören konnte. Die Küche war leer.
Sie hörte Schritte und verbarg sich in einer Nische. Es war Anno, der zielsicher auf die Speisekammer zusteuerte. Die Tür ließ er offen. Lina wartete einen Moment, dann folgte sie ihm.
Von der Speisekammer aus führte eine recht steile Treppe hinunter in den Keller. Lina zögerte einen Moment. Der Keller unter dem Haus mochte groß sein, doch wenn so viele Menschen da unten waren, würde sie in jedem Fall entdeckt. Sie stellte sich an die Treppe und lauschte. Absolute Stille. Wenn dort unten Menschen waren, dann waren sie sehr leise.
Lina kämpfte mit sich, doch ihre Neugier siegte. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und stieg hinunter. Es war ein ganz gewöhnlicher Keller, groß zwar, aber hier unten befand sich alles, was in einen Keller gehörte: Vorräte, Wein, Werkzeuge und abgestellte Möbel. Auch hier gab es eine notdürftige Beleuchtung, und im Schein der Lampe entdeckte sie ein paar Kerzen und Zündhölzer. Sie nahm eine an sich, zündete sie an, steckte auch die Zündhölzer ein und lief den Keller Raum für Raum ab.
Schließlich kam sie in einen Teil, der offensichtlich älter war als das Haus der Wienholds. Einen Teil des Kellers, der unter den drei ursprünglichen Häusern gelegen hatte, hatten sie offenbar erhalten.
In
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