Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Beichtstuhl zu gehen, sondern setzte sich mit ihr in eine Kirchenbank.
Sie bestand auf den Formalitäten, von denen sie gelesen hatte. Sie wusste, dass die Übersetzung der lateinischen Formel, an die sich nicht erinnerte, «Segne mich, Vater, denn ich habe gesündigt» lautete.
«Haben Sie gesündigt, Fräulein Kaufmeister?», begann er das Gespräch.
«Wenn Neugierde eine Sünde ist, dann habe ich gesündigt.» Sie schwieg. Dann stellte sie die leise Frage: «Gibt es Besessenheit?»
Pater Johannes runzelte die Stirn. «Wie kommen Sie darauf?»
«Es ist doch eine einfache Frage. Treibt Ihre Kirche nicht seit Jahrhunderten Dämonen aus? Wie sind sie, diese Besessenen?»
«Wie denken Sie denn darüber?»
«Bisher dachte ich, dass es arme Irre sind und der Aberglaube fröhliche Urständ feiert.»
Pater Johannes schwieg.
«Aber seit heute Nacht», fuhr sie fort, «seit heute Nacht weiß ich nicht mehr, was ich glauben soll. Denn ich habe es gesehen. Vor meinen Augen hat sich ein Mensch in einen anderen verwandelt.» Sie lachte trocken auf. «Sie müssen mich für verrückt halten.»
«Stellen Sie mich auf die Probe», sagte Pater Johannes, und er war vollkommen ernst dabei. «Was genau haben Sie gesehen?»
Lina begann zu erzählen, von der Versammlung und der Verwandlung Reppenhagens in die Priesterin. «Verstehen Sie mich nicht falsch. Das war kein Theaterzauber, und nach der Verwandlung stand da auch kein völlig anderer Mensch. Die Kleidung war dieselbe, die Haare, die Narben – und trotzdem war das nicht mehr der Reppenhagen, den ich kennengelernt hatte. Es war eine Frau, daran besteht kein Zweifel.»
Pater Johannes hatte still dagesessen, und nun sah Lina, dass er die Augen geschlossen hatte und sein Gesicht einen stillen Schmerz ausdrückte. Er schüttelte ein paarmal den Kopf. «Welch eine Prüfung», flüsterte er, aber Lina verstand ihn.
«Ist Reppenhagen ein Besessener?», fragte Lina. «Nicht dass ich es dadurch besser verstehen könnte … aber es wäre wenigstens eine Erklärung.»
Der Pater schlug die Augen auf und sah sie an, der kurze verzweifelte Moment war verschwunden. «Ich möchte nichts dazu sagen, Fräulein Kaufmeister. Je weniger Sie über diese Dinge wissen, desto besser, und Sie wissen bereits zu viel.»
«Aber …»
«Ich weiß, Ihre Sünde ist die Neugier.» War da wirklich ein Lächeln? «Und Ihre Buße wird sein, nicht mehr darüber zu erfahren, als Sie bereits wissen. Vielleicht werde ich Sie irgendwann erlösen.»
Lina schwieg. Sie hatte auf Antworten gehofft.
«Haben Sie noch mehr gesehen, da unten in diesen Katakomben?», fragte er unvermittelt.
Sie schilderte ihm das Opfer des Hündchens und sprach auch ihre Vermutungen über die Verbindung zu den Morden aus. «Da waren viele Leute, die ich kenne. Und wahrscheinlich werden sie noch mehr werden. Deshalb ist die Priesterin bei ihnen. Ein Missionar.»
Pater Johannes nickte. «Und eigentlich sollten Sie dort im Hause sein und schneidern?»
«Ja. Aber ich kann doch jetzt nicht mehr zurück.»
«Im Gegenteil», sagte er eindringlich. «Sie müssen zurück, und Sie müssen so tun, als wäre nichts geschehen. Ansonsten schweben Sie in größter Gefahr.»
Lina schluckte. Der Gedanke, zurück in das Haus der Wienholds gehen zu müssen, jagte ihr Angst ein.
«Gehen Sie nach Hause und ziehen Sie sich um, Fräulein Kaufmeister. Und dann gehen Sie zurück und erfinden eine Geschichte. Sagen Sie, Sie hätten Ihre Schwester besucht und der Abend wäre zu lang geworden, irgendetwas in der Art.»
Sie hörte ihm verblüfft zu, und urplötzlich meldete sich ihre spitze Zunge zurück. «Für einen Priester sind Sie recht gut im Lügen.»
«Das ist kein Spaß. Hier geht es um Leben und Tod.» Er musste ihre betroffene Miene wahrgenommen haben, denn er fügte, wieder mit diesem Anflug von Lächeln, hinzu: «Sie können es ja später beichten.»
Er stand auf und hielt ihr den Arm hin. «Kommen Sie, Sie sollten sich beeilen.»
«Haben Sie nicht etwas vergessen?», fragte sie.
«Ego te absolvo a peccatis tuis in nómine Patris et Fílii et Spíritus Sancti.» Pater Johannes schlug hastig ein Kreuzzeichen. «Sprechen Sie mit niemandem über das, was Sie gesehen haben, Fräulein Kaufmeister. Sie bringen sich sonst in große Gefahr.»
Sie tat, was Pater Johannes ihr geraten hatte, und eilte, so schnell sie es vermochte, zum Dahlmann’schen Haus. Antonie war bereits wach und öffnete ihr. «Ich bin in ein Dornengebüsch geraten»,
Weitere Kostenlose Bücher