Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Freundin Luise Brand auf den Mittwoch.
Es wunderte sie nicht, dass zunächst hauptsächlich die Damen der neu hinzugezogenen Familien sich dort trafen, aber schon nach kurzer Zeit gehörten auch einige der Alteingesessenen dazu. Zu Linas Unbehagen war auch Mina inzwischen häufig zu Gast bei den Wienholds. Die Damen brachten auch immer ihre kleineren Kinder mit, die der Obhut der Gouvernante anvertraut wurden. Lina wunderte das, weil Kinder gewöhnlich zu Hause blieben, wenn die Mütter Besuche machten. Annette und ein oder zwei andere ältere Mädchen saßen hingegen meist bei ihren Müttern und lauschten artig den Gesprächen der Damen. Allerdings schien Annette zu kränkeln, denn es kam vor, dass Jutta sie entschuldigte.
Auch wenn Lina diesem Kränzchen am liebsten ferngeblieben wäre, es war für sie geschäftlich sehr wichtig. Die meisten Aufträge bekam sie aus diesem Kreis und wurde trotzdem wie eine Gleichgestellte behandelt.
Lina hatte immer gehofft, bei diesen Besuchen Anno zu begegnen, doch der Junge blieb unsichtbar. Sie vermutete, dass er wieder im oberen Stockwerk eingeschlossen war, traute sich aber nicht hinauf, weil sie nicht einmal – wie bei ihrem letzten Logierbesuch – irgendwelche Geräusche hätte vorschieben können.
Trotzdem ließ es ihr keine Ruhe. Sie musste erfahren, wie es dem Jungen ergangen war. Deshalb täuschte sie diesmal gleich bei ihrem Eintreffen ein leichtes Unwohlsein vor, was bei der plötzlich ausgebrochenen Julihitze nicht ungewöhnlich gewesen wäre. Jutta wies ihr den Weg in ein weiteres Gästezimmer im ersten Stock. «Hier hast du alles zu deiner Bequemlichkeit, liebe Lina.»
«Vielen Dank. Ich glaube, wenn ich eine Weile liege, geht es mir rasch besser.»
«Und ich soll nicht bei dir bleiben? Oder deine Schwester, wenn sie gleich kommt?»
«Nein, Jutta. Das geht wieder vorbei. Lass deine Gäste nicht so lange allein und sage Mina bitte nichts. Wenn ich mich erholt habe, können wir so tun, als sei ich gerade erst angekommen. Mina hat Sorgen genug.»
«Gut. Dann bis später. Wenn du etwas brauchst, klingele nach dem Hausmädchen.»
Kaum dass Jutta den Raum verlassen hatte, schlich sich Lina hinauf ins obere Stockwerk. Aber wie beim letzten Mal fand sie Annos Zimmer leer. Enttäuscht schlich sie sich wieder hinunter, zurück in das Gästezimmer, und setzte sich dort in einen Sessel.
Eine Weile saß sie dort und gerade, als sie sich entschlossen hatte, zu den anderen Frauen in den Salon zu gehen, sah sie, wie die Klinke der Zimmertür heruntergedrückt wurde. Es war Anno.
«Du bist also sicher aus dem Keller gekommen», sagte sie zu ihm.
Er schien einen Moment zu überlegen, dann nickte er. «Obwohl ich nicht mehr weiß, wie. Ich … ich habe geschlafen, denke ich. Und ich hatte einen Albtraum.»
«Willst du mir davon erzählen?», fragte Lina.
Der Junge schüttelte den Kopf. «Dazu ist keine Zeit.» Er wirkte aufgeregt, nicht so ruhig wie sonst. «Du musst etwas tun. Du musst den Kindern helfen.»
«Welchen Kindern?», fragte Lina verwirrt.
«Na, den Kindern, die sie hierherbringen.»
«Die bei der Gouvernante sind?»
Er schüttelte heftig den Kopf. «Sie sind nicht bei der Gouvernante. Sie sind bei ihm.»
«Bei wem?»
«Beim Instruktor.» Er sprach das Wort ganz langsam aus, als wäre es ihm nicht geläufig. «Ich habe gesehen, wie man sie zu ihm brachte», sprudelte es aus ihm heraus. «Sie zwingen sie, schlimme Dinge zu tun. Und sie …» Er brach ab, und dann sprach er plötzlich wieder mit der Kinderstimme, wie damals, als Lina ihn in der Altstadt gefunden hatte.
«Ich bin immer ganz allein im Dunkeln, und dann kommt der böse Mann», sagte die Kinderstimme.
Lina setzte sich neben das nun zitternde Kind und wollte den Arm um es legen, aber es wich der Berührung aus.
«Anno, wer ist der böse Mann?» Der Junge reagierte nicht. «Anno?»
Sie fragte noch einmal. «Wer ist der böse Mann?»
«Vater.» Es klang wie ein Hilferuf.
Lina fragte sich, ob er seinen Vater beschuldigte oder nach ihm gerufen hatte in seiner offensichtlichen Angst.
«Ist etwas passiert?», fragte Annos Stimme neben ihr. «Ich war … ich glaube, ich habe kurz geschlafen.»
«Du wolltest mir von den Kindern erzählen, Anno.»
Er schüttelte den Kopf. «Das war keine gute Idee. Das ist viel zu gefährlich für dich. Und für mich auch.»
«Wie ist es dir denn ergangen seit jener Nacht?», nahm Lina das Gespräch wieder auf. Was der Junge gesagt hatte, beunruhigte sie
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