Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)

Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)

Titel: Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Kaffke
Vom Netzwerk:
Hüfttuberkulose. Wenn der Vater daran zurückdachte, was das knapp achtjährige Mädchen durchgemacht hatte, kamen ihm noch manchmal die Tränen. Ja, Lina wusste, was Leiden und Schmerzen waren. Die Operation hatte sie fast umgebracht. Und es sollten weitere folgen. Um sie von den fortdauernden Schmerzen zu befreien, mit denen es ihr unmöglich war zu gehen, musste das Gelenk völlig versteift werden. Josef Heinrich Kaufmeister hatte die besten Ärzte dafür konsultiert. Es gelang. Danach reiste Lina mit ihrer Mutter für mehr als ein Jahr nach Italien, um sich zu erholen, und lernte dort mühsam wieder laufen.
    Die Krankheit hatte das kleine Mädchen besiegt, als sie mit fast zehn Jahren zurückkehrte, aber das versteifte Gelenk verkürzte das Bein, und der schiefe Gang drohte das Rückgrat zu verkrümmen. In mehreren gymnastischen Anstalten wurde über Jahre mit Apparaten und Übungen versucht, Linas Körper trotz des Gebrechens zu begradigen. Und fast war das auch gelungen, als sie schließlich mit fünfzehn Jahren endgültig nach Hause zurückkehrte.
    Doch sosehr sich Ärzte und Orthopäden auch bemüht hatten, nun konnte man die Zwillinge gut unterscheiden. Lina war kleiner geblieben, hinkte, und eine Schulter war fast unmerklich hochgezogen. Der einstige Stolz des Vaters war der Sorge gewichen, was aus seiner verkrüppelten Tochter werden sollte.
    Mina hingegen war eine hinreißende Schönheit. Schlank und nicht zu klein hatte ihre Haltung etwas von der Anmut antiker Statuen. Und während sie voller Leidenschaft und ganz Gefühl war, sei es Liebe oder Zorn, konzentrierte sich Lina auf das, was sie an sich selbst als einzig unversehrt betrachtete: ihren Verstand und Wissensdurst, den sie mit Büchern und schließlich mit der Lehrerinnenausbildung befriedigte. Sie war dem Vater fremd geworden, dem jeder ihrer schwankenden Schritte weh tat und dem der Gehstock, der ihr außerhalb des Hauses auf dem buckligen Pflaster und den ausgefahrenen Wegen Halt gab, wie ein Zeichen seines Versagens vorkam.
    Mina war nach wie vor seine kleine Prinzessin, die sich manchmal noch auf seinen Schoß setzte und stets ihren Willen durchsetzte, selbst als sie mit neunzehn Jahren einen jungen Wirrkopf heiraten wollte.
    Aber nicht sein Liebling Mina war nun hier, um den Vater zu pflegen. Lina war es, die nüchterne, kluge, tüchtige Lina, die nichts von seiner tiefen Dankbarkeit ahnte und seiner Beschämung, dass er sie nicht genug geliebt hatte.

    Eine Stunde später saß Lina in ihrem gemütlichen Zimmer gleich neben dem des Vaters. Der große schwere Atlas lag auf ihrem Bett.
    Der Hausdiener hatte schon vor Stunden den Ofen angezündet. Das Holz war jetzt heruntergebrannt, aber Lina legte keine neuen Scheite auf. Sie war sehr müde nach dem anstrengenden Tag. Als sie ihrem Vater den Tee bringen wollte, schlief er bereits, nun stand die Kanne auf dem nur langsam erkaltenden Ofen. Sie goss sich eine Tasse ein. Finchen hatte ihr noch ein Stück Brot, etwas Butter und Käse heraufgebracht, bevor sie selbst in ihrer Dachkammer verschwand.
    Lina lächelte. Sie hatte Hunger, aber sie war gar nicht dazu gekommen, die Köchin um ein Abendessen zu bitten. Sie überlegte, ob Finchen es von sich aus gebracht hatte oder ob die Köchin es ihr aufgetragen hatte. Dann sah sie, wie krumm das Brot und der Käse geschnitten waren. – Gutes Kind, dachte sie.
    Sie aß mit Genuss. Dann stand sie auf, holte einen Bogen Papier, Tinte und Feder von dem kleinen Wandbord und setzte sich an ihre Waschkommode, denn für einen Schreibtisch war hier kein Platz mehr gewesen. Sie überlegte genau, welche Formulierung sie wählte, und begann dann zu schreiben.

    Ich, Josef Heinrich Kaufmeister, gestatte meiner Tochter, dem Fräulein Carolina Sophie Kaufmeister, nach meinem Tod eine Wohnung zu Ruhrort zu mieten, in der sie allein, anständig und mündig leben soll …

    Nach dem zweiten Versuch war sie zufrieden. Sie stellte die Lampe auf den Nachttisch und begann, sich auszukleiden. Sonst pflegte sie ihre Kleider immer sehr ordentlich aufzuhängen, aber heute sorgte sie nur dafür, dass der Rock und das Oberteil nicht zerdrückt wurden. Auf ihrem einzigen Stuhl türmten sich alle sechs rosshaarversteiften Unterröcke, das Korsett und die Unterwäsche. Sie warf ihr Nachthemd über. Heute würde sie ihre Haare nicht bürsten. Lina ließ nur die Zöpfe herunter und setzte die Nachthaube auf. Dann benutzte sie noch einmal ihren Toilettenstuhl, löschte die Lampe und

Weitere Kostenlose Bücher