Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)
und verschwand.
Vorsichtig rüttelte Lina ihren Vater wach. Die nächsten zwei Stunden würde sie mit ihm beschäftigt sein.
Robert Borghoff hatte am Morgen Simon vernommen. Der Junge war aufgeregt und erzählte recht wirr. Auch schien es ihm sehr peinlich zu sein, Fräulein Lina im Nebel verloren und sich verlaufen zu haben. Aber schließlich konnte Borghoff sich ein Bild der Ereignisse machen, die zur Auffindung der Leichen geführt hatten.
Er beschloss, Lina den Gang zur Polizei abzunehmen. Auch dieser Morgen war wieder sehr nebelig gewesen, aber nun zwängten sich bereits erste Sonnenstrahlen durch die Wolken – endlich war es hell genug, um den Fundort genau in Augenschein zu nehmen. Auf dem Weg dorthin würde er am Haus der Kaufmeisters haltmachen. Er nahm Polizeidiener Schröder mit und wies ihn an, Simons Einlassung, die dieser mit krakeligen Buchstaben bestätigt hatte, einzustecken.
Das Haus der Kaufmeisters war das höchste und größte an der Carlstraße, die meisten Bauten hier waren nur zweistöckig. Neugierig betrachtete er das geschäftige Treiben in dem großen Innenhof. Gerade wurde ein Karren mit Metallwaren ausgeladen. Er zog kräftig an der Hausglocke. Ein ganz junges Hausmädchen, deren natürliche braune Locken vorwitzig aus der Haube lugten, öffnete die Tür.
«Ich bin Polizeicommissar Borghoff. Ist Fräulein Kaufmeister zu sprechen?»
«Ich frag nach», sagte die Kleine und war schon fast wieder im Haus, als sie sich eines Besseren besann. «Kommen Sie doch herein, bitte», kam es wie auswendig gelernt. Sie knickste leicht. Borghoff und der Polizeidiener betraten den Flur und sahen ihr amüsiert nach, wie sie die Treppe hinaufstürmte. Der Commissar sah sich um und entdeckte im Schirmständer neben der Tür Linas Gehstock.
Lina kam die Treppe herunter, hinter ihr Finchen, der es viel zu langsam ging. «Entschuldigen Sie, Herr Commissar, aber es war mir noch nicht möglich, zu Ihnen zu kommen», begrüßte Lina ihn. «Mein ohnehin schon sehr kranker Vater scheint sich eine Erkältung zugezogen zu haben, und ich musste mich um ihn kümmern.»
«Mein Besuch sollte kein Vorwurf sein, Fräulein Kaufmeister. Ich wollte noch den Fundort bei Tageslicht inspizieren und dachte, da Ihr Haus fast auf dem Weg liegt, Ihnen den Gang ersparen zu können.»
«Das ist sehr freundlich von Ihnen. Kommen Sie doch bitte hier herein.» Sie wies ihnen den Weg zum Salon. «Finchen, bringst du uns bitte einen Kaffee? Sie beide möchten doch einen, oder?»
Noch bevor Borghoff «sehr gern» sagen konnte, war Finchen bereits aus dem Raum geeilt und hatte fast die große chinesische Vase dabei umgerissen.
Lina seufzte, während sie Borghoff und dem Polizeidiener einen Stuhl anbot. «Ich habe ihr schon beigebracht, dass sie mit Kaffee besser nicht so losrennt», sagte sie, und Borghoff lächelte. Ihr Eindruck, dass Borghoff einmal ein sehr gutaussehender Mann gewesen war, bevor er sein Auge verloren hatte, fand Lina nun bei Tageslicht bestätigt.
Sie plauderten noch ein wenig, bis Finchen mit dem Kaffee kam. Lina nahm ihr ab, die Tassen auf den Tisch zu stellen und einzuschenken. Dem zufriedenen Gesicht des Polizeidieners sah man an, dass er selten guten Kaffee bekam.
Borghoff wurde dienstlich. «Wir haben heute Morgen schon mit Simon Weber gesprochen. Ich denke, wir lesen dessen Aussage vor, und Sie unterbrechen uns, wo Sie etwas richtigstellen oder ergänzen möchten.»
Es dauerte dann doch länger als eine Tasse Kaffee. Simon hatte vieles falsch dargestellt, was Linas scharfer Verstand ganz anders wahrgenommen hatte. «Hat er nichts von der Kutsche gesagt?», fragte sie plötzlich.
«Welche Kutsche?»
«Es kam eine Kutsche, vielleicht von der Phoenix-Straße her.» Lina goss zur Freude des Polizeidieners noch einmal nach. «Aber nein, dann hätte sie den Jungen ja überholt … Kurze Zeit war alles still, daher denke ich, die Kutsche hat angehalten. Und dann ist sie losgeprescht, als wären tausend Teufel hinter ihr her. Ich konnte gerade noch zur Seite springen.»
«Wie sah sie denn aus?», fragte Borghoff.
«Es war ein einfacher schwarzer zweispänniger Wagen, wie ihn viele hier haben.»
«Geschlossen?»
«Ja.»
«Haben Sie jemanden erkennen können?»
Sie schüttelte den Kopf. «Nein, das ging viel zu schnell … Aber es könnte sein …» Sie stockte, dann sah sie Borghoff direkt an. «Möglicherweise war es ja dieselbe Kutsche, die uns in der Stadt passiert hatte. Was sonst als das
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