Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Sonntagspredigten in beiden Kirchen hatten sich erstaunlich geähnelt. Es war von Gotteslästerung und Höllenfeuer die Rede gewesen, aber auch von verlorenen Söhnen und Vergebung.
Lina selbst hatte mit klopfendem Herzen einen neuen Auftrag von Jutta Wienhold abgelehnt und die Nachricht mit einem schlichten «Ich habe keine Zeit» beantwortet. Trotzdem hatte sie deswegen ein schlechtes Gewissen, denn immerhin hatte Jutta maßgeblich zu ihrem Erfolg beigetragen. Wenn nicht die Gefahr bestanden hätte, dass Reppenhagen ihr etwas antun wollte, hätte sie Jutta vielleicht sogar besucht.
«Du bist verrückt», sagte Robert dazu. «Eine Frau, die diese Dinge mit ihrem Kind machen lässt, gehört bestraft. Du schuldest ihr gar nichts.»
Ihre Vertrautheit miteinander war noch größer geworden, und weil er darum wusste, dass Lina ihn immer sehnsüchtig erwartete, kam er jetzt immer auch mittags nach Hause, um gemeinsam mit allen zu essen. Manchmal war Lina das aber mehr Qual als Freude, denn sie wünschte sich, ihn berühren zu können und seine Küsse auf ihrer Haut zu spüren.
Gerade eben war er wieder zum Dienst gegangen, und sie saß an ihrer Nähmaschine und heftete einen Rock zusammen, als es an die Tür klopfte. Es war Finchen, und sie hatte Tränen in den Augen.
«Ist etwas mit Klein Oskar?», fragte Lina und ließ den Stoff sinken.
«Nein, nein. Lotte war hier, Ihre Schwester Mina schickt nach Ihnen. Das Kind Ihrer Schwägerin ist gestorben.» Dann liefen ihr wirklich die Tränen über das Gesicht. «Ich habe der Frau Aaltje so gewünscht, dass die Kleine gesund ist.»
«Das habe ich auch, Finchen, das habe ich auch.» Lina stand auf. «Ich werde mich gleich auf den Weg machen. Weine nicht, Kind. Die Kleine war so schwach, wir mussten damit rechnen.»
Aber es musste schwer für Aaltje sein, denn Georg war für ein paar Tage nach Rotterdam gefahren. Arme Aaltje!
Im ganzen Haus herrschte gedrückte Stimmung. An der Tür kam Lina Pfarrer Wortmann entgegen. «Ich fürchte, ich habe keinen Trost mehr für Ihre Schwägerin», sagte er traurig.
«Die Zeit muss es heilen, Herr Pfarrer.»
Lotte nahm ihr den Mantel ab. «Sie weint nur noch. Sie hat seit gestern nicht einen Bissen gegessen.»
Dann ist es wirklich schlimm , dachte Lina. Es war immer schlimmer, wenn das Kind geatmet und getrunken hatte und dann starb. «Ist eine Suppe auf dem Herd?», fragte sie.
Lotte nickte.
«Dann mach sie warm und bring sie hinauf.»
In Aaltjes Schlafzimmer war die Luft abgestanden, und es roch unangenehm. Lina vermutete, dass Aaltje das Bett seit der Geburt noch nicht verlassen hatte. Sie holte tief Luft und ging hinein. Als Erstes zog sie die Vorhänge weg und öffnete ein Fenster.
Aaltje hatte sie kaum wahrgenommen. Sie lag auf der Seite in ihrem Bett und starrte hinüber zu der Wiege. Dort lag das tote Kind, als würde es friedlich schlafen.
«Aaltje …» Lina ging zu Aaltje, und obwohl sie dick wie ein Berg war, schien die Holländerin in sich zusammengefallen zu sein. Die Augen waren rot geschwollen.
«Schwägerin …» Lina setzte sich auf das Bett. «Wir müssen die Kleine jetzt wegbringen.»
Erst jetzt kam Leben in Aaltje. «Nee! Laat haar bij mij!»
«Nur nach nebenan.» Lina wartete Aaltjes Protest nicht ab, sondern zog die Wiege in den Ankleideraum. Heinrich konnte sie später nach unten in den Salon zur Aufbahrung schaffen. Lina wusste nicht mehr, wie oft sie das schon hatten tun müssen in den letzten Jahren.
«Aaltje, sieh mich an.» Zunächst war es Lina gar nicht bewusst, dass sie ihre Schwägerin geduzt hatte. «Du musst aufstehen und dich waschen, das Bett muss neu bezogen werden. Du musst stark sein, für die Beerdigung.»
Aaltje schüttelte nur den Kopf und fing wieder an zu weinen. Der ganze mächtige Körper bebte. «Ich werde Georg nicht unter die Augen treten können», wimmerte sie. «Ik will niet meer leven.»
Lina war froh, dass Lotte mit der Suppe hereinkam. «Du musst etwas essen, Aaltje. Nur ein bisschen Suppe. Ich weiß, dass du keinen Appetit hast, aber du musst wieder zu Kräften kommen.»
Sie brachte Aaltje dazu, sich aufzusetzen, und dann fütterte sie sie wie ein kleines Kind. «Gut», sagte sie, als der Teller leer war. «Und jetzt solltest du dich waschen.»
In diesem Moment steckte Mina ihren Kopf ins Zimmer. «Du bist schon da, Lina!», sagte sie und lächelte. «Könnte ich dich einen Moment sprechen?»
Lina nickte, stellte den Teller beiseite und ging hinaus. «Was gibt
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