Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)
die Betonierung der Wände im Turmsockel noch warten.
Seit Georgs Ausbruch an dem Abend der Gesellschaft hatten er und Lina kaum ein Wort miteinander gewechselt, und es herrschte eine gedrückte Stimmung im ganzen Haus.
«Ich werde nachher zum Bahnhof fahren. Möglicherweise kommt Mina mit dem Mittagszug», sagte Lina in die Stille hinein.
«Reicht es nicht, wenn Peter hinfährt? Erkennen wird er sie ja wohl …» Georg sah von seiner Suppe auf und seufzte. «Egal, was ich sage, du wirst ja ohnehin nicht auf mich hören.»
«Freust du dich denn gar nicht, Mina wiederzusehen?»
«Mir wäre es lieber, sie hätte einen anständigen Mann geheiratet und keinen Landesverräter, dann müssten wir sie jetzt nicht hier aufnehmen.»
Lina verkniff sich eine Antwort und stand auf. «Ich bringe dem Vater sein Essen.»
Helene hatte den Teller schon in der Küche fertiggemacht. Da es in seinem Zustand mit der Suppe etwas schwierig war, bekam der alte Kaufmeister sie mit zerdrückten Kartoffeln.
«Den Teller kann ich schon allein hinauftragen», sagte Lina, als die Köchin ihre Hilfe anbot. Hoffentlich wurde sie rechtzeitig fertig.
Der Vater hatte nur wenig Appetit gehabt, und heute hatte Lina auch nicht darauf bestanden, dass er ein paar Bissen mehr aß. Sie schaffte es, noch vor der Ankunft des Zuges am Bahnhof zu sein, der nördlich der Stadt gebaut worden war. Gemeinsam mit dem Stallknecht Peter stand sie an den Gleisen und wartete. – Vielleicht ist sie gar nicht in diesem Zug , sagte sie sich immer wieder. Vielleicht kommt sie erst am Nachmittag oder am Abend. Sie hatte ihre Schwester so lange nicht mehr gesehen, und jetzt konnte sie es kaum noch erwarten.
Der Zug fuhr ein, nur wenige Passagiere stiegen aus. Lina glaubte schon, dass Mina tatsächlich nicht in dem Zug war, als zwei Jungen in der Tür des Waggons erschienen, heraussprangen und ihr entgegenstürmten. «Tante Lina, Tante Lina!»
Der inzwischen zwölfjährige Emil und sein zwei Jahre jüngerer Bruder Josef hatten ihre Tante zuletzt vor sieben Jahren gesehen, aber sie offensichtlich in sehr guter Erinnerung behalten. Lina hatte ihnen vorgelesen, mit ihnen gespielt, und sie hatten immer viel Spaß gehabt mit der Frau, die merkwürdigerweise genauso aussah wie ihre Mutter.
«Vorsicht, ihr werft mich ja um, Jungs.»
Nun erschien auch Mina in der Waggontür. Für einen Moment war Lina erschrocken. Sie hatte erwartet, wie gewohnt ihr Spiegelbild zu sehen, doch das Gesicht der Schwester war hager, fast hart, das Kleid, das schon bessere Zeiten gesehen hatte, war ihr zu weit, der wollene Mantel hatte blanke Stellen. – Das wird nur die anstrengende Reise sein – machte Lina sich Mut. Aber keine noch so weite Reise hatte je das Leuchten in Minas Augen zum Verlöschen gebracht.
Peter kam auf sie zu und nahm ihr die große Reisetasche ab. Mina bemerkte seinen fragenden Blick. «Nein, das ist alles an Gepäck.»
Mina schien wie betäubt, als sie vor Lina stand. Immer schon hatte Lina jede Stimmung der Schwester gefühlt wie die eigene. Sie begriff, wenn sie Mina jetzt umarmte, würde sie weinen.
«Lass uns schnell nach Hause fahren, Schwesterchen», sagte sie daher nur.
Mina nickte.
Peter verstaute die Tasche im Wagen. Die Jungen und die Frauen kletterten in den Wagen, und nun fuhren sie Richtung Neustadt. Gerade als Peter die Pferde antreiben wollte, stolperte eine merkwürdige Gestalt vor ihnen auf die Straße. Lina erkannte die verrückte Kätt und wühlte sofort in ihrem Beutel nach ein paar Pfennigen. «Peter, halte bitte kurz an», rief sie dem Kutscher zu.
Kätt sah den Wagen und drängte sich zu ihnen an die Seite, wo die Brüder saßen. Ein unangenehmer Geruch ging von ihr aus, aber Lina kannte es nicht anders.
Kätt hielt die Hand auf. «Einen Pfennig für Kätt. Hunger. Und mein’ Kleine auch.»
Die Jungen wichen erschrocken vor der Bettlerin zurück, doch Lina, die ihre Geschichte kannte, drückte dem kleinen Josef zwei Pfennige in die Hand. «Na los, Josef. Gib sie der armen Frau.»
Das Kind schüttelte den Kopf und sah Lina ängstlich an.
«In den letzten Tagen in Brüssel wärst du froh gewesen, wenn dir jemand zwei Pfennige geschenkt hätte. Gib der Frau die Münzen», forderte seine Mutter ihn auf.
Josef beugte sich über den Rand der Kutsche und legte Kätt die Pfennige in die schmutzige Hand. Als er sich wieder setzte, waren seine Augen ganz starr, aber er sagte nichts.
Kätt krächzte ein «Danke» und hielt das schmutzige
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