Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Bündel hoch.
«Das ist mein Kind!», schrie sie, und die beiden Jungen zuckten vor Angst zusammen. «Teufel. Es sind Teufel hier in Ruhrort. Sie essen Kinder. Sie haben mein Kind gegessen.»
Lina erhob sich halb. «Schäm dich, Kätt. Wir geben dir etwas, und du machst den Kindern solche Angst.»
Entschlossen ließ sie Peter wieder anfahren, und Kätt wich vom Wagen zurück. «Teufel. Menschenfresser», rief sie noch einmal.
«War es denn so schlimm?», fragte Lina Josef.
«Das Kind …», sagte er leise.
«Aber Josef, Kätt hat kein Kind. Ihres ertrank vor vielen Jahren. Seitdem ist sie verrückt.»
«Aber das Bündel! Da war ein Gesicht!»
Mina lächelte müde. «Mein Kleiner ist sehr empfindsam, und er hat eine große Einbildungskraft.»
«Aber …», begann Josef. Lina bemerkte den Blick seines älteren Bruders, woraufhin er verstummte.
«Die Jungen mussten in Brüssel zu viel Schlimmes sehen», sagte Mina. «Da spielt einem die Phantasie schon einmal einen Streich.»
Und was hast du gesehen, Schwester?, dachte Lina, während der Wagen die Stadt erreichte.
Wenig später waren sie in der Carlstraße angekommen, und Peter fuhr die Kutsche in den Hof. Mina war ausgestiegen und machte einen verwirrten Eindruck. «Es ist merkwürdig», sagte sie zu Lina, «ich habe ja gewusst, dass ihr umgezogen seid, aber im Grunde habe ich die ganze Zeit erwartet, in die Dammstraße zurückzukehren und alles so vorzufinden, wie es war.»
Emil und Josef bestaunten noch das große, dreistöckige Haus, als sich plötzlich die Eingangstür öffnete und Aaltje herauskam. Lina erwartete eine eher frostige Begrüßung, da Aaltje, wie immer ganz auf der Seite ihres Mannes, nur wenig Begeisterung über die Aufnahme der Schwägerin in ihrem Hause gezeigt hatte. Doch sie hatte die holländische Gastfreundschaft unterschätzt. Aaltje breitete ihre Arme aus, lief auf Mina und die Jungen zu und rief laut: «Hartelijk welkom!»
«Bedankt, liefste Tante», rief Emil.
«Bedankt, Schoonzus», sagte nun auch Mina.
Auf Aaltjes Gesicht erschien ein Lächeln, sie freute sich über die Antworten in ihrer Muttersprache. Wer in Ruhrort aufgewachsen war, konnte zumindest ein paar Brocken Holländisch.
Während Heinrich die zerschlissene Tasche ins Haus trug, kamen Karl und Elisabeth dazu, ihre Cousins zu begrüßen. Artig und ein wenig misstrauisch gaben sie den beiden die Hand. Aaltje redete ununterbrochen auf Holländisch auf alle ein, bis Lina sie unterbrach. «Ihr müsst müde und hungrig sein. Es ist noch genug von der Suppe da und auch Kartoffeln.»
«Und heute Abend gibt es een feestmaal», ergänzte Aaltje. «Guste, Bertram und de Kinderen werden ook komen.»
Lina sah ihre erschöpfte Schwester an. Sie erwartete eigentlich Protest, aber es kam keiner. Mina war fast apathisch. Lina wusste, sie wünschte sich nur noch ein Bett nach der langen Reise. «Wisst ihr was? Ihr esst jetzt erst einmal, und dann richtet ihr euch ein. Ein Familienessen können wir in den nächsten Tagen immer noch veranstalten.»
Mina nickte. «Ich wäre sehr froh, wenn ich schnell zu Bett gehen könnte.»
Aaltje schien enttäuscht, sagte aber nichts. Lina führte Mina und die Jungen in den Salon und ging dann, um der Köchin Anweisung zu erteilen. Finchen brachte Mineralwasser, das die Reisenden dankbar tranken.
Elisabeth zupfte Lina am Ärmel und flüsterte: «Du, Tante, der Emil hat ja viel zu kurze Jackenärmel.»
«Das habe ich auch gesehen. Sie haben alle eine schwere Zeit durchgemacht», erklärte Lina ihr leise. «Und wir müssen alles tun, damit sie sich hier bei uns schnell wohl fühlen.»
Finchen und Helene brachten die Teller mit Suppe und zerdrückten Kartoffeln in den Salon. Aaltje beobachtete stumm, wie Mina und die Jungen aßen. Mina gab sich alle Mühe, so damenhaft zu essen, wie sie es gelernt hatte, aber so ganz wollte ihr das nicht gelingen. Die Jungen hingegen schlangen das Essen gierig hinunter, als wäre es die letzte Mahlzeit, die sie in den nächsten Wochen bekommen würden. Jeder der drei bekam noch einen zweiten Teller. Als Emil noch einen dritten verlangen wollte, wies Mina ihn scharf zurecht.
Lina sah ihrer Schwester direkt ins Gesicht. «Dürfen die Jungen mich kurz begleiten?», fragte sie.
Mina nickte.
Lina stand auf. «Dann kommt mal mit.»
Sie ging mit den beiden in die Küche. «Das ist unsere Köchin Helene», stellte sie die rundliche Frau vor. «Und das sind die Hausmädchen Lotte und Finchen. Und der
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