Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das rote U

Das rote U

Titel: Das rote U Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Matthießen
Vom Netzwerk:
den
zusammengeschobenen Zollstock. „Das Chor der Kirche muss etwas nach
rechts herüber liegen“, sagte er halb für sich, und er leuchtete
die Mauer ab. „Siehst du, hier diese Mauer ist viel dicker und massiver
als die an den anderen Seiten. Das sind die Grundmauern der Kirche. Und gerade
da hab’ ich neulich was gesehen. Komm, Silli ,
es hilft uns nichts. Hier liegt ein Haufen Knochen; das Wasser hat sie gegen
die Mauer geschwemmt. Wir müssen sie wegräumen.“
    Aber das Mädchen begriff
immer noch nichts. „Die pack ich nicht an!“ rief sie.
    „Dumme Gans!“ fuhr
der Bruder sie an, „wenn die Toten da wüssten, weshalb ich ihre
Knochen hier weghaben will, dann würden sie von selbst aus dem Weg
gehen.“
    Aber wie er sich nun
bückte und ein Beinstück nach dem anderen, einen Schädel um den
anderen weghob und beiseite legte, da griff er doch so vorsichtig und behutsam
zu, als wäre er bange, er möchte einem wehe tun. Doch bald war er
fertig, und nun nahm er Silli die Lampe, mit der sie
ihm geleuchtet hatte, aus der Hand und ließ ihren Schein auf die
freigewordene Wand fallen.
    „Siehst du wohl?“
triumphierte er, „diesen Mauerbogen hatte ich schon längst gesehen...“
    Ja, sie standen vor einem
vermauerten Türloch . Boddas rieb sich die Hände. „Ich sag’ es ja, hier braucht nur mal so
ein alter Baumeister hinzukommen. Früher habe ich nicht so drauf geachtet.
Aber gestern auf dem ganzen Weg hab’ ich es mir überlegt...“
    „Wie du die Figuren in
den Sand gezeichnet hast?“
    „Merkst du das jetzt
erst? Und nun raus und oben nachgemessen. Bis an die Kirche.“
    Im Garten nun huschten sie
flink wie die Kaninchen durch das hohe Gebüsch und das welke Gras, hinter
den Heiligenfiguren herum, und bald war die ganze Seite in dem Notizbuch mit
Zahlen beschrieben. Aber Boddas sah sie sich erst
genauer an, als sie wieder hinter dem wilden Wein auf der Kellertreppe
saßen, und er rechnete und rechnete, verglich, zählte ab, und schließlich
sagte er:
    „Die zugemauerte Tür
führt unter das Chor der Kirche. Wir wollen mal sehen, ob wir sie
kaputtkriegen.“
    Und er hob eine dicke eiserne
Mauerklammer auf, über die er schon ein Dutzend Mal fast gefallen
wäre. Und damit klopfte er drunten zuerst leise, dann kräftiger, erst
an die Mauer, dann wieder an das Kirchenfundament, nun wieder an die Vermauerung ...
    „Sie klingt heller, also
ist sie nur dünn!“ stellte er fest, aber es dauerte wohl eine
Stunde, bis er den ersten Stein herausgewuchtet hatte. Kurz darauf polterte
schon der zweite nach innen – ein schwarzes Loch gähnte ihnen
entgegen. Tief atmete Boddas auf und warf das Eisen
auf die Erde – seine Hände waren zerkratzt und blutig.
    „ Silli ,
gib mir mal dein Taschentuch!“ sagte er.
    Aber schon fuhr er zurück,
und Silli hatte einen hellen Schrei
ausgestoßen... Mit beiden Händen klammerte sie sich an ihren
Bruder... Ja, er hörte es auch... da drinnen hinter der vermauerten
Tür klang leiser, leiser Gesang. Zwar hörten die Kinder nicht die
Worte, nur den Ton der düsteren Melodie, der von weit, weither zu kommen
schien...
    „Da singen die
Gespenster...“, hauchte das Mädchen und zitterte, als
hätt’ es Fieber.
    Aber der kleine Baumeister
hatte seine Ruhe schon wieder.
    „Dummes Zeug, Gespenster!
Die Lampe her!“
    Und er leuchtete in das
Mauerloch hinein. Nicht weit fiel der schwache Strahl in die Finsternis, aber
was Boddas sah, das genügte ihm: drinnen lag Geripp neben Geripp in heiliger
Ruhe, und über die Toten hin klang wie aus der Erde heraus eine leise,
traurige Melodie.
    Boddas atmete auf. „Da hast du
deine Gespenster!“ sagte er, „denn das ist doch nur die Orgel aus
der Kirche. Vielleicht übt der Organist gerade. Und man hört drunten
ein paar Töne... Ja ja , wir Baumeister!“
    Und nun erst schaute auch das
Mädchen durch die Mauerlücke...
     

    Eine halbe Stunde später
klingelte es an der Wohnungstüre des Pfarrers. Die Haushälterin
öffnete.
    „Nun, Kinder, was wollt
ihr?“
    „Den Herrn Dechant
sprechen, Frollein !“ sagte Boddas ,
„ich bin nämlich der Sohn von dem Kirchenvorstand Baumeister
Boden.“
    „Na, dann kommt mal rein,
Kinderchen“, sagte die alte Frau, und Boddas hätte ihr am liebsten die Augen ausgekratzt. Kinderchen! Was fiel der ein?
Wer hatte noch vor einer halben Stunde zwischen grässlichen Gerippen im Totenkeller
gestanden – sie oder er und seine Schwester? Na, die dumme Person
würde schon Augen machen!
    Jetzt

Weitere Kostenlose Bücher