Das rote Zimmer
brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Aber sie hatte weiches Haar.« Er gab ein seltsames Geräusch von sich, eine Art leises Miauen, bei dem es mir kalt über den Rücken lief.
Seine Aussage war ein Durcheinander sich widersprechender Behauptungen – dass er gesehen habe, wie ein großer Mann, ein wahrer Riese von einem Mann, versucht habe, Bryony zu erwürgen, dass sie sich von ihrem Angreifer direkt in seine Arme geflüchtet habe, dass er sich auf den Mann gestürzt habe, um sie zu retten, dass der Mann in einem blauen Lieferwagen davongefahren sei, vielleicht sei es auch kein blauer, sondern ein roter Wagen gewesen, vielleicht auch kein Lieferwagen, nein, jetzt falle es ihm wieder ein, der Mann sei entlang des Kanals davongelaufen, und Bryony sei ohnmächtig geworden.
»Erzählen Sie mir nur das, woran Sie sich wirklich erinnern, Michael. Warum waren Sie so spät noch am Kanal unterwegs?«
»Ich war beim Fischen. Gute Zeit dafür. Vollmond. Kein Mensch unterwegs, kein störender Lärm.«
»Wo befanden Sie sich? Direkt am Ufer?«
»An meiner üblichen Stelle. Im Schatten, gleich neben dem Tunnel, wo mich keiner sieht, ich aber alle sehen kann.«
»Was haben Sie gesehen?«
»Sie wissen schon«, antwortete er. »Die Dame. Den Mann, der hinter ihr her war. Und den anderen Mann.
Terry. Haben Sie Terry schon kennen gelernt? Wir haben sie gemeinsam gerettet. Den Kerl verjagt und sie gerettet.«
»Können Sie den Angreifer beschreiben?«
»Es war ein Mann. Ein großer Mann.«
»Sonst noch was?«
»Eigentlich nicht. Ich habe bloß ein paar Schatten gesehen, dann bin ich aufgestanden, ich glaube, ich bin aufgestanden, ich weiß es nicht mehr genau, ich war total durcheinander, jeder wäre da durcheinander gewesen, Kit.
Ich hab sie nur festgehalten, damit er ihr nichts tun konnte.«
»Sind Sie sicher? Sind Sie ganz sicher, dass es so war?
Sie haben sie von ihm weggezerrt?«
»O ja.« Er lächelte mich mit seinem verunstalteten Mund an.
»Ich habe sie gerettet. Ich bin ganz sicher, dass ich sie gerettet habe. Weiß sie das überhaupt? Die Zeitungen schreiben schreckliche Dinge über mich, aber ich habe sie vor ihm gerettet. Sagen Sie es ihnen, ja? Sagen Sie es allen, dann werden sie Bescheid wissen. Es wird ihnen Leid tun, was sie getan haben. Allen wird es Leid tun.«
Wieder berührte er mit der Hand sein Gesicht, leckte über den Schnitt in seiner Lippe.
»Was ist danach passiert?«
»Danach?«
»Nachdem Sie sie von ihm weggezerrt hatten.«
»Da kam dieser Mann aus dem Tunnel. Sie rannte zu ihm hin, und der andere lief davon. Und sie schrie und schrie und schrie. Ich habe gar nicht gewusst, dass ein Mensch so laut schreien kann.«
»Hören Sie zu, Michael. Sie müssen jetzt genau nachdenken. Können Sie sich an irgendwas erinnern, was auch immer es sein mag, das Sie gesehen oder gehört haben, egal, und wovon Sie der Polizei oder mir noch nichts erzählt haben?«
»Ich habe ihr Haar gestreichelt, um sie zu trösten.«
»Ja.«
»Und der andere Mann, der aus dem Tunnel gekommen ist, der hat gesagt – entschuldigen Sie, Kit – ganz laut hat er gesagt: ›Verdammte Scheiße.‹ Tut mir Leid.« Doll hatte eine prüde Miene aufgesetzt.
»Wohin gehen Sie jetzt, Michael?«
»Wohin?« Sein Blick richtete sich auf mich. »Könnte ich nicht vielleicht mit zu …«
»Sie sollten nach Hause gehen, Michael. Sehen Sie zu, dass Sie was Anständiges in den Magen bekommen. Und ziehen Sie sich saubere Sachen an. Sie sollten sich ein wenig ausruhen.«
»Ausruhen«, wiederholte er. »Ja. Das war alles ein bisschen viel für mich. Sie haben mir Pillen gegeben, aber ich weiß nicht, wo ich sie hingetan habe.«
»Gehen Sie heim, Michael.«
»Bin ich nicht in Gefahr?«
»Stehen Sie unter Polizeischutz?«
»Man hat mir gesagt, sie würden ein Auge auf mich haben.«
»Gut.« Ich lächelte. Trotz meiner Verwirrung, meiner bleiernen Müdigkeit und meines Abscheus vor Doll empfand ich plötzlich ein Gefühl von Zärtlichkeit für diesen armen Kerl mit seinem aufgeschlitzten Gesicht, seinen geröteten Augen und seiner Hoffnungs- und Hilflosigkeit. »Ich glaube wirklich nicht, dass Sie in Gefahr sind. Aber passen Sie trotzdem ein bisschen auf sich auf.«
»Kit. Kit.«
»Ja?«
Aber er hatte mir nichts mehr zu sagen, starrte mich nur ein paar Sekunden lang an. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Sie liefen ihm über die Wangen, über sein zerschnittenes Gesicht, in seinen schmutzigen Kragen.
Es war elf
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